Die Kanalinsel Jersey und das Spektakel der Gezeiten
Noch ist die Kanalinsel Jersey ein Geheimtipp. Sie lockt mit Ruhe, maritimen Köstlichkeiten und einem Gezeitenwechsel der Superlative. Eine Reise so überwältigend wie Ebbe und Flut.
Nein, Jersey. Nicht New Jersey. Wer auf dem Eiland im Ärmelkanal Urlaub macht, muss erst einmal erklären, dass er nicht nach Amerika will. Eingebettet zwischen Frankreich und Großbritannien liegt die größte der Kanalinseln, die weder dem einen noch dem anderen gehört. Als Kronbesitz ist Jersey direkt der britischen Krone unterstellt, genießt aber Autonomie, ein eigenes Parlament, mit dem Jersey-Pfund eine eigene Währung und eine Gesetzgebung, die einige steuerliche Vorteile offeriert.
Ein typischer Offshore-Finanzplatz ist die Oase im Atlantik dennoch nicht. Ein überschaubarer Flughafen, kein offensichtlich zur Schau gestellter Luxus und das ländliche Äußere lassen nicht darauf schließen, dass hier Milliarden Euros von ausländischen Kapitalanlegern parken. Am schönsten formulierte es vermutlich Victor Hugo, der im Hotel Pomme D’or in der Hauptstadt Saint Helier samt Frau, Kindern und Mätresse im 19. Jahrhundert im Exil lebte: Er sagte, Jersey sei „ein Stück Frankreich, das ins Meer gefallen ist und von England aufgesammelt wurde“.
Und so ist es tatsächlich. Die Insel mit ihren Klippen und Stränden, den Surfplätzen und dem verwinkelten Wegenetz im Landesinneren vereint das Beste aus zwei Welten. Linksverkehr, Toilettenspülung, die Pubs, die Pints und die Cottages sind eindeutig britisch. Genauso wie die Höflichkeit der „Jerseyaner“. Während Straßennamen und die kulinarischen Einflüsse französisch anmuten. Böse Zungen behaupten, dass es zum Glück nicht umgekehrt ist.
Endlose Strände und köstliches Essen
Die Einheimischen sind jedenfalls stolz auf ihr Eiland, auf die Krone und ihre lokalen Erzeugnisse wie ihre Frühkartoffeln, die Jersey Royals, ihre Austern und Hummer und vor allem auf ihr „Insel-in-Getränk“, die fette Milch ihrer heiß geliebten Jersey-Kuh. „Die typische Jersey-Kuh ist zierlich mit kräftigen Hüfthöckern. Frischmilch darf hier zum Schutz der Bauern nicht eingeführt werden“, klärt Tourguide Trudie Hairon-Trox auf, während sich die Reisegruppe im Minibus durch die schmalen Straßen in Richtung Royal Bay of Grouville durchschlängelt.
Trudie ist ein wandelndes Lexikon. Die gebürtige Augsburgerin hat es vor 14 Jahren der Liebe wegen auf die Insel verschlagen. Im Grunde kann man die lebenskluge Frau alles über die Insel, ihre Kühe, ihre Bewohner und ihre Besonderheiten fragen, aber richtig in Fahrt gerät die Auswanderin, wenn es um Algen, Wattwürmer, Tang und das Mysterium von Ebbe und Flut geht.
Übernachten umgeben vom Meer
Trudie bietet mit ihrem Mann Watt-Wanderungen an und ist gut ausgerüstet. Ihr Van ist bis oben hin vollgepackt mit grünen Gummistiefeln, die sich die Touristen ausleihen dürfen. Auch unsere Reisegruppe trägt Grün, während sie durch eine mondähnliche Landschaft zum Seymour Tower, drei Kilometer von der Ostküste entfernt, stapft.
Der alte Festungsturm mitten im Nirgendwo ist auch als Unterkunft buchbar. Heute lässt sich eine Gruppe junger Männer auf das Abenteuer ein. Mit ihrem Guide wollen sie in dem Granitturm mit dem Komfort einer Berghütte übernachten. Ihren Proviant haben sie dabei, denn schon in ein paar Stunden werden sie umspült vom Wasser sein.
Spektakuläres Naturschauspiel
Man kann Rad fahren auf Jersey, surfen, wandern, schwimmen, Geschichte erleben, mit dem Boot die Küste entlang fahren und, wenn man Glück hat, Delfine beobachten. Aber eines der faszinierendsten Dinge auf der Insel ist sicher das unglaubliche Naturschauspiel der Gezeiten. Der Unterschied zwischen Niedrig- und Hochwasser kann an manchen Uferteilen an die 12 Meter betragen, das gibt es weltweit nur sehr selten.
Zweimal am Tag zieht sich das Wasser zurück, dann legt die Ebbe felsigen Meeresboden frei und die Insel verdoppelt ihre Größe bei Niedrigwasserstand. Boote stehen dann auf dem Trockenen. Und Menschen zieht es raus ins Watt, um freigelegte Muscheln, Seesterne und Krebse zu bewundern.
„Zwei Stunden vor Tiefstand sollte man los und sollte sich zuvor über den Gezeitenwechsel informieren“, sagt Trudie, denn eines muss einem klar sein, wer sich ins Watt begibt, muss schneller als die Flut sein. 35 Einsätze pro Jahr gibt es ungefähr. Auch Einheimische würden die Situation oft unterschätzen, ein Rettungsturm, auf dem man sich im Notfall flüchten kann, erinnert an den Ernst der Lage.
Edle Delikatesse: Die Auster
Trudie ist in ihrem Element und erklärt die Besonderheit der Nori-Alge, die weltweit um den Sushi-Reis gewickelt wird, in der Ferne kann man die Küste der Normandie erkennen und aus der Ebbe tauchen Austernbänke auf. Die Jersey-Auster ist ein Exportschlager, sagt Trudie und lädt zur Verkostung der nach Meer und Salz schmeckenden Delikatesse ein, bevor es weiter zum La Corbière Lighthouse an der Südwestspitze geht. Der Leuchtturm, umgeben von Klippen, ist ebenfalls nur bei Ebbe zu passieren und ein beliebtes Fotomotiv für Touristen.
Es gibt viele schöne Winkel auf Jersey und unfassbar gute und exklusive Restaurants für Foodies – etwa das Longueville Manor oder das Ocean Restaurant im Hotel Atlantic. Aber noch ist die Kanalinsel hierzulande ein Nischenmarkt, ein Geheimtipp. Doch die zunehmend heißen Sommer könnten der Insel zum Vorteil werden. Das milde Golfstromklima bietet nicht nur eine wunderschöne subtropische Flora, sondern moderate Temperaturen um die 21 bis 23 Grad im Sommer und milde, grüne Winter.
Ja, Jersey ist anders. Man findet keine hippen Aperol-Strand-Bars, kein Halligalli am Abend, keine kilometerlangen Shoppingmeilen, aber dafür eine unglaubliche Ruhe und keinen Übertourismus. Im Grunde genau das, was mittlerweile viele suchen.