Netanyahu: Israels Armee hat Haus des Hamas-Chefs umstellt
Nach Darstellung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu hat Israels Armee das Haus des Chefs der islamistischen Hamas im Gazastreifen umstellt. Yahya Sinwar könne fliehen, sagte Netanyahu am Mittwochabend nach Angaben seines Büros, "aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn finden". Sinwars Haus befindet sich Berichten zufolge in Khan Younis.
Israels Armee hat ihre Angriffe im Gazastreifen kürzlich auch auf die größte Stadt im Süden des abgeriegelten Küstenstreifens, ausgeweitet und diese eingekesselt. Die Streitkräfte hätten innerhalb weniger Stunden die Verteidigungsanlagen der islamistischen Hamas in Khan Younis durchbrochen, teilte das Militär am Mittwochabend mit. Die Armee habe dort Angriffe gegen zentrale Stellungen der Hamas gestartet und dringe nun tiefer in die Stadt vor.
Sie gilt als eine Hochburg der Hamas. Experten vermuten, dass sich die Führung sowie auch Tausende Mitglieder der Hamas in dem weit verzweigten Tunnelnetz unterhalb des Gazastreifens verschanzt haben könnten. Sinwar sei nicht über der Erde, sondern im Untergrund, sagte auch Israels Armeesprecher Daniel Hagari am Mittwochabend. Nähere Angaben dazu wollte er nicht machen. Es sei die Aufgabe des Militärs, Sinwar zu töten.
Sinwar war 1988 wegen Mordes an vier mutmaßlichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten von Israel verurteilt worden. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft. 2011 kam Sinwar als einer von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen im Gegenzug für den in den Gazastreifen entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit frei. 2017 wurde er dann Hamas-Chef im Gazastreifen.
Seit dem Massaker der Hamas und anderer Gruppierungen im israelischen Grenzgebiet, bei dem am 7. Oktober rund 1200 Menschen getötet wurden, steht Sinwar ganz oben auf Israels Abschussliste.
Das israelische Militär liefert sich nach eigenen Angaben die schwersten Kämpfe mit der radikal-islamischen Hamas seit Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen. Die Truppen seien in erbitterte Gefechte in Khan Younis verwickelt, teilte das Militär am Mittwoch mit. Die größte Stadt im Süden des Gazastreifens ist seit Dienstag von israelischen Soldaten eingekesselt, die bereits ins Zentrum vorgedrungen sind. Hunderte Ziele der Hamas seien angegriffen worden, so das Militär.
Die Qassam-Brigaden, der bewaffnete Teil der Hamas, erklärten, ihre Kämpfer seien an den Gefechten mit israelischen Truppen beteiligt. Am Dienstag seien acht israelische Soldaten getötet oder verletzt worden, zudem seien 24 israelische Militärfahrzeuge zerstört worden. Auf seiner Website nannte das israelische Militär für Dienstag zwei getötete Soldaten, seit Beginn der Bodenoffensive seien es insgesamt 83.
Im Norden des Gazastreifens hat die israelische Armee unterdessen nach eigenen Angaben ein riesiges Waffenlager nahe einem Krankenhaus und einer Schule entdeckt. Dort hätten sich Hunderte Panzerfaustgeschosse und Panzerfäuste befunden, Dutzende Panzerabwehrraketen, Dutzende Sprengsätze, Raketen mit längerer Reichweite, Dutzende Granaten sowie Drohnen, teilte die Armee am Mittwoch mit. Es handle sich "um eines der größten Waffenlager", die bisher im Gazastreifen entdeckt worden seien.
Die Waffen seien von den Soldaten mitgenommen worden, manche würden weiter untersucht, andere seien direkt vor Ort zerstört worden. "Die gesamte Terrorinfrastruktur hat sich direkt neben Wohngebäuden im Herzen der zivilen Bevölkerung befunden", schrieb der Sprecher. "Dies ist ein weiterer Beweis der zynischen Verwendung der Bewohner des Gazastreifens durch die Terrororganisation Hamas als menschliche Schutzschilde."
Die humanitäre Situation im Süden des Gazastreifens wird nach palästinensischen Angaben immer dramatischer. Zehntausende Menschen lebten in Zelten in den Straßen der Stadt Khan Younis, berichteten Augenzeugen der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch. Es fehle an Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkünften. Die Lage habe sich besonders zugespitzt, nachdem die israelische Armee die Menschen im Osten der Stadt zur Flucht in westliche Viertel sowie nach Rafah an der Grenze zu Ägypten aufgefordert habe.
Die israelischen Truppen seien weiter dabei, Waffen, Tunnelschächte, Sprengstoff und weitere militärische Infrastruktur zu lokalisieren, erklärte indes die Armee am Mittwoch in der Früh. Ein Kampfflugzeug habe im Verbund mit den Bodentruppen zwei Raketenabschussrampen getroffen, von denen aus Terroristen ein Sperrfeuer von Raketen auf das Zentrum Israels abgeschossen hätten.
Die israelischen Streitkräfte haben im Gazastreifen nach den Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu inzwischen rund die Hälfte aller Bataillonskommandanten der islamistischen Hamas getötet. Das sagte er auf einer Pressekonferenz am Dienstagabend. Die Hamas verliere allmählich die Kontrolle über den abgeriegelten Küstenstreifen, fügte sein Verteidigungsminister Yoav Galant hinzu.
In der US-Regierung wird laut einem Medienbericht davon ausgegangen, dass Israels massive Bodenoffensive im Süden noch bis zum Jänner andauert. Wie der US-Sender CNN unter Berufung auf mehrere ranghohe US-Regierungsbeamte berichtete, könnte Israel demnach in einigen Wochen zu einer "weniger intensiven, stark lokalisierten Strategie übergehen", die auf bestimmte Hamas-Terroristen und -Führer abziele.
Das Weiße Haus sei "zutiefst besorgt" darüber, wie sich die israelischen Operationen in den nächsten Wochen entwickeln werden, wurde ein Beamter zitiert. Die Meinung der Weltöffentlichkeit wende sich zunehmend gegen die gegenwärtige Bodenoffensive, bei der Tausende von Zivilisten getötet werden, berichtete der Sender weiter.
Das UNO-Menschenrechtsbüro beklagte, dass die israelischen Angriffe, die auf zivile Infrastruktur abzielten oder diese träfen, "Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des humanitären Völkerrechts gebe und "das Risiko von Gräueltaten" erheblich erhöhe. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums sind inzwischen mehr als 16.200 Menschen in Gaza getötet worden. Unabhängig lässt sich dies gegenwärtig nicht überprüfen, die UNO und Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten.
Israel rief dazu auf, dass das Rote Kreuz Zugang zu den im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln erhält. "Die internationale Gemeinschaft muss handeln. Das Rote Kreuz muss Zugang zu den Geiseln erhalten, die sich in den Händen der Hamas befinden", sagte Armeesprecher Daniel Hagari am Mittwoch. Jede Minute in Gefangenschaft gefährde das Leben der Geiseln.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das in Israel in die Kritik geraten ist, hatte Ende November erklärt, keine Informationen über den Aufenthaltsort der Geiseln zu haben. Die Hamas lasse keine Besuche bei den Gefangenen zu.
Netanyahu kritisierte unterdessen Menschenrechtsorganisationen und die UNO dafür, sich nicht zu den sexuellen Verbrechen der Hamas gegen Frauen geäußert zu haben. Auslöser des Gaza-Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der islamistischen Hamas sowie anderer Terrorgruppen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt hatten. Mehr als 1.200 Menschen wurden getötet. Nach neuesten Angaben der israelischen Armee sind derzeit noch 138 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer extremistischer Gruppen.
Aufgebrachte Zivilisten im Gazastreifen haben am Mittwoch nach Augenzeugenberichten UN-Hilfslieferungen geplündert. Die Menschen seien in vier Lagerräume eingedrungen und hätten Mehl, Reis und andere Grundnahrungsmittel mitgenommen, hieß es. Sie hätten dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA vorgeworfen, notleidenden Gaza-Einwohnern nicht ausreichend zu helfen und stattdessen Hilfsgüter zu horten.
Augenzeugen hatten zuvor bereits berichtet, Mitglieder der islamistischen Hamas hätten Hilfslieferungen von Lastwagen gestohlen und in ihren Autos mitgenommen, teilweise mit Waffengewalt. Israel hatte mehrmals die Sorge geäußert, humanitäre Hilfslieferungen für die Bevölkerung im Gazastreifen könnten auch der Terrororganisation in die Hände gelangen.
Die UN beklagen, dass wegen der intensiven Kämpfe weniger Hilfe in den Süden des Gazastreifens gelange. Die Zahl der Lastwagen, die derzeit ankomme, belaufe sich in etwa auf 100 pro Tag.
Nach Angaben des UNRWA gibt es mittlerweile fast 1,9 Millionen Binnenvertriebene in dem Küstenstreifen - bei mehr als 2,2 Millionen Bewohnern insgesamt. Die Organisation warnt, sie komme angesichts der dramatischen Lage in dem Küstenstreifen nicht mehr mit der Versorgung der Einwohner hinterher.