Armee meldet schwerste Kämpfe seit Beginn der Gaza-Offensive
Angesichts heftiger Kämpfe im gesamten Gazastreifen hat Israels Militär vom "intensivsten Tag seit Beginn der Bodenoffensive" gesprochen. Die Truppen seien nun auch "im Herzen" von Khan Younis, der größten Stadt im Süden des Gazastreifens, teilte das Militär am Dienstag mit. Auch im Norden gebe es heftige Kämpfe. Laut UNO sind die Voraussetzungen für humanitäre Hilfe im Gazastreifen seien "nicht gegeben".
Mit Blick auf die Zahl "der getöteten Terroristen, der Anzahl der Gefechte und des Einsatzes von Feuerkraft an Land und in der Luft" sei dies der bisher intensivste Tag seit Beginn der Offensive im Norden des Küstenstreifens Ende Oktober, hieß es seitens der israelischen Armee. Diese bereitete sich darauf vor, Khan Younis einzukesseln. "Unsere Kräfte kreisen nun den Raum Khan Younis ein", sagte Generalstabschef Herzi Halevi.
Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist seit Beginn des Kriegs nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums auf 16.248 gestiegen. Mehr als 42.000 Menschen seien verletzt worden, teilte das Ministerium am Dienstag mit. Tausende Menschen würden zudem weiter vermisst. Am Montag hatte die Behörde noch von fast 15.900 Toten gesprochen.
Die Opferzahlen lassen sich gegenwärtig nicht unabhängig überprüfen, die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten.
In den Süden des Küstengebiets waren nach Aufforderung der israelischen Armee Hunderttausende Schutz suchende Zivilisten aus dem bereits zuvor heftig umkämpften Norden geflüchtet. Die Armee warnte die Bevölkerung der Stadt am Dienstag in Flugblättern vor einem bevorstehenden Angriff. "In den kommenden Stunden werden die israelischen Verteidigungskräfte mit einem intensiven Angriff auf Ihr Wohngebiet beginnen, um die Terrororganisation Hamas zu zerstören", hieß es in den Schreiben. Zuvor waren auch schon Bewohner eines Küstengebiets um den Ort Al-Mawasi gewarnt worden.
Beim mutmaßlichen Beschuss einer Schule im südlichen Gazastreifen sind nach Angaben der Hamas mindestens 25 Menschen getötet worden. Wie das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium zudem am Dienstag mitteilte, hielten sich in der Schule geflüchtete Palästinenser auf. Augenzeugen berichteten von dutzenden Verletzten und Leichen unter den Trümmern der offenbar als Flüchtlingsunterkunft genutzten Maan-Schule in der Stadt Khan Yunis.
Die Verletzten seien ins Nasser-Krankenhaus der Stadt gebracht worden. Der Augenzeuge Mohammed Salu, dessen Schwester bei dem Angriff getötet wurde, sagte der Nachrichtenagentur AFP, er glaube, dass "nicht die Schule selbst Ziel der Angriffe war, sondern das Gebiet um sie herum".
Israel wirft der Hamas vor, zivile Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser als Verstecke zu nutzen und Zivilisten als "Schutzschilde" zu missbrauchen, was die militante Palästinenserorganisation bestreitet.
Schon in der Nacht hatte es Berichte über eine deutliche Ausweitung der israelischen Offensive gegeben. Die Terrororganisation Hamas hielt das aber offenbar nicht davon ab, Israel neuerlich mit Raketen zu beschießen. In Tel Aviv, Beersheva und Ashkelon schlugen Raketen ein, mehrere Menschen wurden verletzt.
Die israelische Nachrichtenseite ynet berichtete von insgesamt 15 Geschoßen, die von dem Küstengebiet aus auf den Großraum Tel Aviv abgefeuert worden seien. Ein Mann wurde nach Angaben des Rettungsdienstes Magen David Adom von einem Raketensplitter leicht verletzt. Der TV-Sender N12 berichtete zudem, eine Schule im Norden Tel Avivs sei von Raketenteilen getroffen worden. Bei einem Raketeneinschlag in Ashkelon wurden zwei Frauen durch Splitter leicht verletzt. Zuvor hatte die Hamas mitgeteilt, dass sie Raketen auf die südisraelische Stadt Beersheva abgefeuert habe.
Im Onlinedienst Telegram erklärte die Hamas, ihre Kämpfer hätten in der Nähe von Khan Younis zwei Truppentransporter und einen Panzer angegriffen. Khan Younis ist derzeit das Zentrum der Kämpfe. Am Montag waren nach Angaben von Augenzeugen Dutzende israelische Panzer, Truppentransporter und Bulldozer in den Süden des Palästinenser-Gebiets eingedrungen. Die israelische Armee erklärte, sie ergreife "aggressive" Maßnahmen gegen die "Hamas und andere terroristische Organisationen" in Khan Younis.
Die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA berichtete von "mehreren" Toten bei einem Angriff auf die Stadt Gaza im Norden des Palästinenser-Gebiets. Wochenlang hatten sich die durch den Hamas-Überfall auf Israel vom 7. Oktober ausgelösten israelischen Angriffe auf den Norden des Gazastreifens konzentriert. Bereits am Wochenende war aber auch der Süden stark unter Beschuss genommen worden, darunter das Gebiet um Khan Younis.
Bei erneutem Beschuss an der Grenze zwischen dem Libanon und Israel hat es nach libanesischen Angaben am Dienstag mehrere Verletzte und einen Toten gegeben. Die libanesische Armee erklärte, dass bei einem israelischen Angriff auf einen Militärstandort im Grenzgebiet mindestens ein Soldat getötet worden sei. Es ist der erste libanesische Soldat, der in dem aktuellen Konflikt ums Leben gekommen ist. Aus Sicherheitskreisen im Libanon hieß es weiterhin, dass eine Person bei einem Angriff auf ein Wohnhaus verletzt worden sei. Das israelische Militär äußerte sich bisher nicht zu dem Vorfall. Der Beschuss folgte auf eine Reihe von Angriffen der libanesischen Hisbollah auf israelisches Gebiet.
Die UNO-Koordinatorin für humanitäre Angelegenheiten in den palästinensischen Gebieten, Lynn Hastings, erklärte, die Voraussetzungen für humanitäre Hilfe im Gazastreifen seien "nicht gegeben". "Möglicherweise wird sich ein noch höllischeres Szenario entfalten", warnte Hastings. "Es ist nirgendwo sicher in Gaza und man kann nirgendwo mehr hin", fügte sie hinzu.
Unterdessen erklärte der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, die israelische Armee habe seine Organisation zur Räumung eines Lagers mit Hilfsgütern im Süden des Gazastreifens aufgerufen. Die israelische Armee wies dies zurück. "Von einem UNO-Vertreter würden wir zumindest mehr Genauigkeit erwarten", erklärte das Verteidigungsministerium auf X.
Nach Angaben der israelischen Armee vom Dienstag wurden drei weitere Soldaten bei Kämpfen im Gazastreifen getötet. Damit erhöhte sich die Zahl der getöteten Soldaten auf 78. Nach Angaben zweier hochrangiger israelischer Offiziere wurden beim Militäreinsatz gegen die Hamas doppelt so viele Zivilisten wie Hamas-Kämpfer getötet. Auf Informationen angesprochen, denen zufolge 5.000 Hamas-Kämpfer getötet worden seien, erklärte einer der Offiziere, diese Zahl sei "mehr oder weniger exakt".
Im von Israel besetzten Westjordanland rückten Dienstag früh israelische Soldaten ein. Bei Zusammenstößen an einem Übergang in der Nähe von Jerusalem wurde ein Palästinenser bei Zusammenstößen getötet, wie das palästinensische Gesundheitsministerium mitteilte.
Die israelische Armee griff nach eigenen Angaben Dienstag früh auch Stellungen der mit der Hamas verbündeten radikalislamischen Hisbollah-Miliz im Libanon und mehrere Ortschaften im Nachbarland an. Es handle sich um eine Reaktion auf Schüsse aus dem Libanon auf den Norden Israels.
Am Freitag war eine siebentägige Feuerpause ausgelaufen, die zur Freilassung von insgesamt 105 Geiseln aus den Händen der Hamas genutzt worden war. Zugleich wurden 240 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freigelassen. Nach israelischen Angaben hat die Hamas noch 137 Geiseln in ihrer Gewalt, darunter auch die Leichname von 15 Israelis.
Laut einem Regierungssprecher stellt sich Israel auf einen schwierigen weiteren Verlauf seiner Militäroffensive im Gazastreifen ein. "Wir machen jetzt mit der zweiten Phase weiter. Eine zweite Phase, die militärisch schwierig sein wird." Er fügte hinzu, Israel sei offen für "konstruktives Feedback" was die Minderung des Leids für Zivilisten angehe. Die Ratschläge müssten aber im Einklang mit dem Ziel stehen, die Hamas zu zerstören.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mahnte Israel am Dienstag, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. "Israel hat das Recht, seine Bevölkerung im Rahmen des Völkerrechts zu schützen. Entscheidend ist aber, wie Israel in dieser neuen Phase vorgeht", sagte Baerbock. Deutschland hatte es bisher anders als andere EU-Staaten vermieden, Israel zu einem Stopp seiner Militäraktion aufzufordern.
Der katarische Ministerpräsident und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman al-Thani sagte am Dienstag, die Bemühungen zur Wiederherstellung einer Feuerpause und zur Freilassung der Geiseln gingen weiter. "Leider standen wir vor einigen Herausforderungen, die dazu führten, dass die Feuerpause gestoppt und nicht verlängert wurde", so al-Thani.
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas dauert inzwischen bereits mehr als acht Wochen an. Am 7. Oktober waren Hunderte Kämpfer der von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuften Hamas nach Israel eingedrungen und hatten Gräueltaten überwiegend an Zivilisten verübt. Israelischen Angaben zufolge wurden etwa 1.200 Menschen getötet und rund 240 Menschen als Geiseln verschleppt.