Europa rätselt wieder, was Orbán wirklich will
Die Mehrheit in der EU will die Ukraine noch vor dem Wahljahr an das große Europa anbinden. Ungarns Premier droht, das zu blockieren.
Brüssel – In gut einer Woche muss der EU-Gipfel in Brüssel zwei weitreichende Entscheidungen zur Ukraine-Politik treffen. Es geht um Beitrittsverhandlungen und Finanzhilfen. Im Vorfeld hat sich Ungarns Premier Viktor Orbán quergelegt. Jetzt rätseln alle: Will er den Lauf der Geschichte bremsen – oder versucht er wieder einmal, Zugeständnisse zu erpressen?
Die EU-Kommission, das EU-Parlament und die meisten Mitgliedstaaten wollen der Ukraine das Startsignal für Beitrittsverhandlungen geben. Doch Orbán erklärte, das liege nicht im Interesse Ungarns. Der EU-Gipfel solle gar nicht versuchen, die Frage zu entscheiden, weil „der offensichtliche Mangel an Konsens“ zum Scheitern führen würde, schrieb er an Ratspräsident Charles Michel.
Vorerst schrillt in Brüssel noch kein Alarm. „Ich glaube, dass Orbán sehr genau weiß, was er will“, sagt ein Insider. Soll heißen: Der Premier fordert wohl Geld. Ein Teil der für Ungarn vorgesehenen EU-Mittel liegt auf Eis, weil Orbán sein Land zunehmend in einen autoritären Staat verwandelt und es Zweifel gibt, ob das Geld rechtsstaatskonform verwendet würde.
Es kann aber auch sein, dass der Premier die politische Umarmung der Ukraine aus prinzipiellen Gründen blockiert. Dafür spricht zum einen seine antiliberale Haltung; erst im Oktober traf sich Orbán demonstrativ mit Kremlchef Wladimir Putin.
Zum anderen müsste sich die EU reformieren, wenn sie ein so großes Land wie die Ukraine aufnehmen will. Orbán kann sich ausrechnen, dass es am Ende für Ungarn weniger Geld aus Brüssel geben würde – und vielleicht auch straffere Regeln und Entscheidungsprozesse, die ihm seine Extratouren erschweren. Er hat nun vorgeschlagen, mit der Ukraine ein „strategisches Partnerschaftsabkommen“ zu schließen, statt über einen Beitritt zu verhandeln.
Auch andere runzeln die Stirn angesichts des Tempos, mit dem die Ukraine seit dem Angriff Russlands ins Vorzimmer der EU gestolpert ist. Aber ihre Unterstützer verweisen auf das schmale Zeitfenster. Im Frühsommer sind EU-Wahlen, im Herbst US-Wahlen. Für die westliche Ukraine-Politik bedeutet das Stillstand und Unklarheit, wie es weitergeht. „Es ist wichtig, dass wir jetzt schon Pflöcke einschlagen“, so der Insider. Zumal die Verhandlungen mit der Ukraine mindestens ein Jahrzehnt bräuchten.
Noch schmäler ist das Zeitfenster bei der Finanzhilfe. Ohne diese droht der Ukraine schon im Jänner ein Finanzloch. Die EU-Kommission hat ein Hilfspaket von 50 Mrd. Euro bis 2027 vorgelegt, davon 33 Mrd. Euro als Kredite. Auf die Finanzhilfe pro Monat umgerechnet, entspricht das laut Budgetkommissar Johannes Hahn ungefähr der bisherigen Unterstützung. „Das wollen wir in Zukunft fortführen“, sagt Hahn.
Orbán ist dagegen, die Ukraine-Hilfe aus dem EU-Budget zu bestreiten. Er schlägt stattdessen eine Art Ukraine-Fonds vor, an dem sich all jene beteiligen sollen, die das wollen. Anders formuliert: Die anderen sollen zahlen.
Die Verhandlungen darüber auf dem EU-Gipfel dürften kompliziert werden. Denn die Ukraine-Hilfe ist nur ein Teil des zusätzlichen Finanzbedarfs, den Hahn angemeldet hat. Das Gesamtpaket liegt bei 66 Mrd. Euro bis 2027. Dagegen regt sich auch in anderen Hauptstädten Widerstand – u. a. in Wien.
Die Strategen denken indessen schon an übermorgen. „Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, wie wichtig die Amerikaner für uns sind“, sagt der EU-Abgeordnete David McAllister, Vorsitzender des Außen-Ausschusses. Aber die Amerikaner würden sich aus Europa zurückziehen. Botschaft: Europa muss sicherheits- und geopolitisch auf eigenen Beinen stehen. Das heißt zuallererst, in der eigenen Nachbarschaft für Stabilität und Ordnung zu sorgen.