Psychoanalytische "Turandot" an der Staatsoper ausgebuht
In der Psychoanalyse ist der Widerstand ein gängiger Topos - und mit genau diesem sah sich am Donnerstagabend auch Regisseur Claus Guth in der Wiener Staatsoper konfrontiert. Seine Neudeutung von Giacomo Puccinis letztem Werk "Turandot" als analytisches Kammerspiel fiel beim Publikum überraschend einhellig durch. Umso euphorischer bejubelt wurden da die beiden Stars Asmik Grigorian und Jonas Kaufmann - beides szenische Rollendebütanten.
Guth, der an der Staatsoper bis dato nur den "Tannhäuser" inszeniert hatte, bürstet die "Turandot" gleichsam gegen den Strich, was offenbar der großen Mehrheit des Auditoriums gegen eben selben ging. Anstelle von Massenspektakel und China-Prunk wie beim panasiatischen Restaurant um die Ecke, setzt der 59-Jährige gleichsam ein Kammerspiel, das ganz auf die beiden Hauptfiguren fokussiert: Prinzessin Turandot, die ihren Verehrern drei Rätsel stellt und sie bei Versagen töten lässt, und den sie schließlich bezwingenden Calàf.
Im Unterschied zu den meisten Inszenierungen ist die Turandot bei Guth jedoch nicht die mystische, stolze Prinzessin, sondern traumatisiertes Opfer, das selbst zur Täterin wird. Die vom Shootingstar Asmik Grigorian gesungene Figur zeigt die Frau als Opfer, nicht als Furie. Zu sehen ist weniger eine Selbstermächtigung nach einem Femizid an einer Verwandten in grauer Vorzeit als der verfehlte Versuch einer Traumabewältigung. Der sanfte Calàf des Jonas Kaufmann erscheint hier im Gegenzug weniger als draufgängerischer Eroberer denn als sensibler Gefährte, der einer mit ihren Dämonen Kämpfenden die Hand reicht.
Musikalisch erstaunt hierbei allerdings, dass unter dem Dirigat von Marco Armiliato Grigorian alles andere als eine intime Ausgestaltung der Partie abliefert, sondern vor allem anfangs überraschend forciert und damit die intime Deutung eher konterkariert. So sehr die Inszenierung zurückgenommen ist im Bombast, so sehr wird hier musikalisch aufs Gas gedrückt.
Auch die dritte entscheidende Figur der Oper, die Dienerin Liù, ist in der Guth'schen Perspektive neu gelesen. Mit der russischen Sopranistin Kristina Mkhitaryan üppig besetzt, ist die sich aus Liebe selbst opfernde Sklavin hier anders als die Turandot kein Opfer, sondern eine starke, stolze Frau. In Schwarz gewandet, ist sie auch hiermit als Pendant zur weiß-ätherischen Turandot gehalten.
Die psychoanalytische Lesart macht dabei an vielen Stellen durchaus Sinn, lässt manche Szene schlüssiger erscheinen, wenn etwa der soeben erfolgreiche Calàf sich wiederum Turandot ausliefert und dies nicht als Kampf zweier stolzer Charaktere, sondern als helfende Hand gegenüber einer Strauchelnden fungiert. Guth setzt immer wieder auf Doppelgänger der Hauptfiguren, und die Turandot bleibt lange eine Projektion Calàfs - nicht nur im psychoanalytischen, sondern ganz konkreten Sinne an der Wand. Um zu bemerken, dass die Palasttür Freuds Praxistür aus der Berggasse nachempfunden ist, dafür muss man allerdings wohl Freudianer sein.
Die Volksmassen werden hingegen marginalisiert. Die Menschen sind gesichtslose Bürokraten, androgyn gewandet, austauschbare Rädchen im 60er-Jahre-Outfit, die sich mechanisch in ihrem Räderwerk bewegen. Als hätte Robert Wilson Figuren von Christoph Marthaler choreografiert. Zugleich wirken die humoresken Seitenstränge des 1926 uraufgeführten Stücks mit den Ministern Ping, Pang und Pong in dieser seelenausdeutenden Interpretation noch deplatzierter als sonst.
In jedem Falle bietet die neue Staatsopern-"Turandot" einen frischen, ungewohnten Blick auf einen der Klassiker des Repertoires. Noch dazu verwendet man die seltener gespielte Langfassung des Endes, mit dem Franco Alfano nach dem Tod Puccinis die Oper vollendete und die von Toscanini einst eingekürzt wurde. Es gibt also unbestreitbar gute Gründe, sich dieser Inszenierung zu nähern, auch wenn bereits bei der Reprise im Juni Superstar Jonas Kaufmann nicht mehr von der Partie ist.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)