Kultur Österreich

Restitutionsforschung im Zeitalter des "Memory Boom"

Restitutionsexpertin Schölnberger: "Wir betreiben auch Täterforschung"
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25 Jahre nach der Verabschiedung des Kunstrückgabegesetzes ist die Provenienzforschung heute ein "Gradmesser, wie umfassend und totalitär der Vermögensentzug ab dem 'Anschluss' 1938 vor allem gegenüber Jüdinnen und Juden vollzogen wurde". Inwiefern sich die Herausforderungen seither verändert haben, was passiert, wenn die ursprünglichen Eigentümer nicht eruiert werden können und wie es um die Causa Grünbaum steht, erzählt Kommissionsleiterin Pia Schölnberger im APA-Interview.

APA: Als Österreich 1998 das Kunstrückgabegesetz verabschiedet hat, waren die Dimensionen des in österreichischen Sammlungen befindlichen Nazi-Raubguts noch nicht vorstellbar. Wo steht man jetzt, nach 25 Jahren? Wird der Aufarbeitungs- und Rückgabeprozess überhaupt je abgeschlossen sein?

Pia Schölnberger: Das ist die häufigste Frage, die ich gestellt bekomme, und auch die am schwierigsten zu beantwortende. 1998 hatte man vor allem damit gerechnet, in den Gemäldesammlungen auf NS-verfolgungsbedingt entzogene Objekte zu stoßen, was sich auch im Titel des Gesetzes niedergeschlagen hat. Das Gesetz betrifft jedoch alle Sammlungen des Bundes, und im Zuge der Forschungen hat sich herausgestellt, dass jegliche Art von Gegenständen, von Büchern über Musikinstrumente bis zu Porzellanservices, NS-verfolgungsbedingt entzogen worden sein konnte. Man muss allerdings die nötigen Ressourcen bereitstellen, um ihre Erwerbsgeschichte zu untersuchen. So wurde die Provenienzforschung bald zu einem Gradmesser, wie umfassend und totalitär dieser Vermögensentzug ab dem "Anschluss" 1938 in Österreich vor allem gegenüber Jüdinnen und Juden vollzogen wurde. Aufgrund der systematischen Forschungen haben sich bei jedem vorgelegten Bericht weitere Fragen ergeben und Lücken gezeigt, die zu schließen waren. So hat sich im Laufe der Zeit eine sehr starke Gruppe an Wissenschafterinnen und Wissenschaftern herausgebildet, die immer mehr Expertise angesammelt hat, die der Republik jetzt zur Verfügung steht.

APA: Die Kommission arbeitet sich sukzessive durch alle Inventare der Bundessammlungen ab 1933. Im Vorwort zu dem von Ihnen mitherausgegebenen Band "Restituiert" sprechen die politisch Verantwortlichen von Provenienzforschung als einer "notwendigen Konstante innerhalb der Institutionen". Wo liegen in der täglichen Arbeit die Herausforderungen?

Schölnberger: Sicherlich im hohen Spezialisierungsgrad der seitens der Provenienzforschung zu untersuchenden Parameter. Es hat sich etwa gezeigt, dass der nationalsozialistische Vermögensentzug im Kunstbereich sich nicht nur auf die Museen im engeren Sinne bezogen hat. Das war ein lebhaftes Netzwerk an Involvierten: von Kunstsammlern über Händler bis hin zu Sachverständigen, die sich jahrzehntelang in einem intensiven Dialog befunden haben und nach der NS-Machtübernahme umfassende Kooperationen mit den Machthabern eingingen, sodass insbesondere in den Jahren 1938 und 1939 fast im Monatstakt neue Strukturen und Regelungen geschaffen wurden, um diesen Vermögens- und Kunstentzug immer reibungsloser vonstatten gehen zu lassen. Insofern betreibt die Kommission für Provenienzforschung auch Täterforschung.

APA: Warum werden die Inventare eigentlich bis in die Gegenwart durchforstet?

Schölnberger: Immer wieder kommt es vor, dass Werke oder Objekte restituiert werden, die erst nach 1945, also beispielsweise in den 1980er-Jahren in einer Auktion erworben wurden, und dann erst durch die Provenienzforschung eruiert wird, dass eigentlich 40 Jahre davor eine Entziehung stattgefunden hat.

APA: Rückgaben sind bisher nicht nur erfolgt, wenn sich Erben direkt an die Republik gewandt haben, sondern vor allem proaktiv. Wie wird da vorgegangen?

Schölnberger: Sobald die Provenienzforscherinnen und -forscher bei ihrer Aufarbeitung der Sammlungen auf ein (potenziell) entzogenes Objekt stoßen und eine Empfehlung durch den Kunstrückgabebeirat bzw. die entsprechende Rückgabeentscheidung durch den zuständigen Bundesminister erfolgt, muss wiederum proaktiv herausgefunden werden, an wen zu restituieren ist. Dementsprechend benötigen wir auch Expertise auf dem Feld der Erbenforschung. Dieser Bereich ist sehr aufwendig, weil ja mit jedem Jahr, mit dem wir uns vom Kriegsende entfernen, potenziell immer mehr Erbinnen und Erben hinzukommen. Umgekehrt sind manchmal die Nachfahren nicht zu eruieren, dann wird an den Nationalfonds übereignet. Das geschieht insbesondere dann, wenn bereits die ursprünglichen Eigentümer nicht identifiziert werden können, was vor allem bei Büchern, wenn sie etwa "anonym" von der Gestapo der Nationalbibliothek zugewiesen wurden, der Fall ist.

APA: Nehmen die aktiven Anfragen von Nachfahren mit der Zeit zu?

Schölnberger: Fakt ist, wir befinden uns nach wie vor im Zeitalter des sogenannten "Memory Boom". Die Anfragen kamen in den vergangenen 25 Jahren in Wellen. Derzeit erleben wir ein außerordentlich großes Interesse an der Aufarbeitung von NS-Verfolgung und an potenziellen Rückgabefällen oder an Provenienzfragen. Dementsprechend ist es umso wichtiger, dass in den großen Häusern und auch im Büro der Kommission dauerhaft Expertinnen und Experten tätig sind, um die Anfragen auch entsprechend bearbeiten zu können. Diese kommen teilweise von Privatpersonen, auch schon sehr betagten Personen, die auf der Suche nach Gegenständen sind, die einst ihren Familien gehörten. Umso wichtiger ist es, rasch zu handeln.

APA: Vor welchen Herausforderungen steht die Kommission in Zukunft?

Schölnberger: Die größte Herausforderung ist sicherlich das Verschwinden der unmittelbar Betroffenen, das Verstummen der Zeitzeugen. In den vergangenen 25 Jahren ist es durchaus geschehen, dass einzelne der vormals Beraubten ihre Sachen wieder zurückbekommen haben. Aber solche Fälle liegen unter den bislang 400 Rückgaben im einstelligen Bereich. In der Regel sind es die Rechtsnachfolger, die die zu restituierenden Objekte erhalten. Und hier liegt natürlich eine Herausforderung: Wir arbeiten gegen die Zeit. Je mehr Zeit vergeht, desto größer werden die Erbengruppen, verteilt über die ganze Welt - von den USA über Israel bis nach Australien, desto stärker entfernen sie sich mitunter von den ursprünglich Geschädigten.

Eine weitere sehr wichtige Herausforderung, die wir seit einigen Jahren aktiv leben, ist, ausgehend von der punktuellen Provenienzforschung, dieses große Expertenwissen, das angesammelt wurde, sowohl zur Institutionsgeschichte der jeweiligen Bundesmuseen als auch auf dem Feld der Zeit-, Politik-, Opfer- oder Tätergeschichte zugänglich zu machen. Die Kommission für Provenienzforschung ist mittlerweile ein aktiver Player innerhalb der österreichischen Zeitgeschichtsforschung und leistet einen wichtigen Beitrag für die angewandte Forschung. Dieses Wissen wollen wir mithilfe von Vernetzung und Publikationen in die Grundlagenforschung zurückspielen. Besonders die Möglichkeiten, das Wissen auch in digitaler Form, etwa mittels Datenbanken und diverser Online-Tools, zugänglich zu machen, hat große Priorität, insbesondere für den für die Provenienzforschung wesentlichen internationalen Austausch.

APA: Die Kommission widmet sich gemäß Kunstrückgabegesetz den Sammlungen des Bundes. Wie wichtig sähen Sie eine Ausweitung auf private Sammlungen? Das Leopold Museum hat ja eine eigene Provenienzstelle eingerichtet, aber wie sieht es mit anderen großen Sammlungen wie etwa der Heidi Horten Collection aus?

Schölnberger: Der Kunstrückgabebeirat berät laut Gesetz den zuständigen Minister hinsichtlich der Rückgabe oder Nichtrückgabe aus den Sammlungen des Bundes. Es ist aber durchaus so, dass sich Dritte an den Beirat wenden können; das passiert auch regelmäßig - denken Sie etwa ans Volkskundemuseum Wien. Die Empfehlungen richten sich dann eben nicht an die zuständigen Minister, sondern an die Sammlungseigentümer. Vor zwei Jahren wurde beispielsweise eine Empfehlung für das Salzburg Museum gegenüber Salzburg ausgesprochen. Insofern könnten sich auch andere Institutionen an den Beirat wenden.

APA: Besonders prominent in der Restitutionsgeschichte war "Adele Bloch Bauer I". Inwiefern hat der Fall den öffentlichen Blick auf Ihre Arbeit verändert?

Schölnberger: Das war damals ein Sonderfall, dem wir in unserem Band "Restituiert" ein eigenes Kapitel widmen. Es war kein klassischer Fall innerhalb der 25-jährigen Kunstrückgabepraxis in Österreich, da diese Causa letztlich von einem Schiedsgericht entschieden wurde, dennoch wird sie - vor allem international - am häufigsten zitiert. Dem vorgelagert war ein negativer Beiratsbeschluss. Ein Wendepunkt war es, wenn Sie wollen, weil sich so ein Fall seither nicht wiederholt hat.

APA: An einen weiteren potenziellen Sonderfall denkt man im Fall der Sammlung Grünbaum. 2015 sprach sich der Beirat gegen eine Rückgabe zweier mutmaßlich aus der Sammlung Grünbaum stammender Schiele-Zeichnungen aus. Zuletzt wurden in den USA einige Schiele-Arbeiten aus der Sammlung Grünbaum versteigert, die zuvor von US-Museen freiwillig an die Erben zurückgegeben wurden. 2022 wurde seitens der Erben auch eine Klage auf Rückgabe von Werken aus der Albertina und dem Leopold Museum - darunter "Tote Stadt III" - eingebracht. Wie schätzen Sie die Möglichkeit einer Restitution hier ein?

Schölnberger: Den konkreten Fall in den USA kann ich nicht kommentieren. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, dass der Beirat - ebenso wie auch das Gremium der Leopold Museum Privatstiftung - einstimmig die Nichtrückgabe empfohlen hat. Hier kann ich noch einmal Bezug auf Ihre Frage zu den Herausforderungen nehmen: Mitunter gibt es Fälle, bei denen ein Verfolgungshintergrund vorliegt, für das spezifische Objekt aber keine Entziehung festzustellen ist. Allgemein gesprochen wird ein bereits abgeschlossener Fall ohne substanzielle neue historische Erkenntnisse nicht ein zweites Mal beschlossen.

APA: Sind Sie der Meinung, dass die oben angesprochenen Restitutionen in den USA einem medial aufgebauten moralischen Druck auf private Museen geschuldet sind, obwohl keine Entziehung vorliegt?

Schölnberger: Auch das möchte ich nicht kommentieren.

APA: Sie sind seit 2019 Leiterin der Kommission. Was wünschen Sie sich persönlich für die weitere Arbeit?

Schölnberger: Mir ist es wichtig zu vermitteln, dass sich Restitution von Kunst- und Kulturgegenständen nicht in einem abgehobenen Bereich abspielt, sondern in der Mitte der Gesellschaft: Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, ihre Haushalte und Bibliotheken, ihre Alltagsgegenstände und Liebhaberstücke und auch ihre Kunstsammlungen waren von Verfolgung und Vermögensentzug betroffen, und die Übernahme der Verantwortung soll auch in die Mitte der Gesellschaft zurückwirken.

(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)

ZUR PERSON: Pia Schölnberger wurde 1982 geboren und studierte in Wien Gemanistik und Geschichte. Sie arbeite u.a. an den Gedenkstätten Hartheim und "Am Spiegelgrund" und beim Allgemeinen Entschädigungsfonds. Von 2011 bis 2017 war sie im Auftrag der Kommission für Provenienzforschung beim Bundeskanzleramt Provenienzforscherin an der Albertina, danach wechselte sie in die Sektion Kunst und Kultur. Seit 2019 steht sie der Kommission für Provenienzforschung vor.

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