Netanyahu nennt Gaza-Krieg "moralisch und gerecht"
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat sich zum 100. Tag des Gaza-Krieges siegessicher gezeigt und die Angriffe auf den Gazastreifen verteidigt. Israel führe einen "moralischen und gerechten Krieg, der seinesgleichen sucht, gegen die Hamas-Monster, die neuen Nazis", sagte er, ungeachtet der Proteste und der gefährlich gestiegenen Spannungen in der ganzen Region. Unterdessen forderten Tausende bei pro-palästinensischen Demos in den USA und Europa ein Ende der Kämpfe.
Das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) erneuerte seinen Appell für eine humanitäre Feuerpause. "Massenhafter Tod, Zerstörung, Vertreibung, Hunger, Verlust und Trauer haben in den letzten 100 Tagen die von uns allen geteilte Menschlichkeit befleckt", schrieb der Generalkommissar der UNRWA, Philippe Lazzarini, in einer Erklärung. Die große Mehrheit der Menschen, die Kinder eingeschlossen, sei zutiefst traumatisiert. 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge würden in heillos überfüllten, mit unzureichenden Sanitäranlagen ausgestatteten Notunterkünften hausen. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden bisher mehr als 23.000 Menschen in dem Küstengebiet getötet.
Eine Waffenruhe, eine bessere Versorgung sowie Sicherheitsgarantien forderte eindringlich auch der Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Gaza, Leo Cans. Die "wahllosen Bombardierungen" müssten aufhören. In einer Audiobotschaft vom Samstagabend beschrieb er die Zustände im European Hospital in Gaza als katastrophal. Das Spital sei nicht nur voll Patienten, sondern auch mit anderen Schutzsuchenden. "Derzeit können wir nicht mehr mit der Situation nicht mehr umgehen", sagte Cans. Er beschrieb den Fall eines neunjährigen Mädchen, deren Mutter bei einem Luftangriff getötet wurde und dem ohne Narkose beide Beine amputiert werden mussten.
An diesem Sonntag dauert der Krieg in dem von Israel abgeriegelten Küstengebiet am Mittelmeer 100 Tage an. Auslöser war die verheerende Terrorattacke der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober. Mehr als 1.200 Menschen wurden dabei getötet und etwa 250 weitere in den Gazastreifen verschleppt. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive.
"Wir werden den Krieg bis zum Ende fortsetzen - bis zum vollständigen Sieg, bis wir alle unsere Ziele erreicht haben: Die Beseitigung der Hamas, die Rückgabe aller unserer Geiseln und die Gewährleistung, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellen wird", sagte Netanyahu Samstagabend. "Niemand wird uns stoppen", erklärte der unter Druck stehende Regierungschef Samstagabend. Israel ist der Zeitung "Haaretz" (Samstag) zufolge jedoch noch weit vom Erreichen seiner Kriegsziele entfernt.
Als einen Grund führte die israelische Zeitung an, Israel sei vom Umfang der Tunnel der Hamas unter dem Gazastreifen überrascht worden. Die unterirdischen Gänge seien ausgeklügelter als vermutet. Die Führungsspitze der Hamas sei darin relativ gut vor Angriffen geschützt. Sie umgebe sich vermutlich mit den verschleppten Geiseln. Es sei aus diesen Gründen schwierig, die Hamas zu besiegen, hieß es.
Die israelische Armee will den militärischen Druck auf die Hamas weiter erhöhen. "Druck, der zur Zerschlagung der Hamas und zur Rückkehr der Geiseln führt", sagte der israelische Generalstabschef Herzi Halevi am Samstag. Während einer Feuerpause waren im November 105 Geiseln freigelassen worden, im Gegenzug für 240 palästinensische Häftlinge. Nur durch den militärischen Druck sei es gelungen, dass viele Geiseln freikamen, sagte Halevi. "Um die Hamas zu zerschlagen, ist Geduld notwendig und unerlässlich", sagte der Generalstabschef.
Tausende Menschen forderten am Samstagabend bei Demonstrationen in der israelischen Metropole Tel Aviv sowie anderen Städten des Landes Netanyahus Rücktritt. Redner der Kundgebung in Tel Aviv warfen seiner Regierung vor, nicht genügend zu unternehmen, um die im Gazastreifen noch festgehaltenen Geiseln wieder nach Hause zu bringen. Netanyahu wird außerdem beschuldigt, die Vorbereitungen der Sicherheitskräfte auf einen Angriff wie den am 7. Oktober vernachlässigt zu haben.
In zahlreichen europäischen Städten sowie in den USA kam es am Samstag wieder zu pro-palästinensischen Demonstrationen. Tausende protestierten in Washington, London, Rom oder Basel gegen Israels Offensive im Gazastreifen.
Unterdessen kam es in der Nacht zum Sonntag auch an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon erneut zu gegenseitigem Beschuss. Eine Terrorzelle sei aus dem Libanon auf israelisches Gebiet eingedrungen und habe auf patrouillierende Soldaten geschossen, teilte die Armee mit. Die Soldaten hätten das Feuer erwidert, vier Terroristen seien dabei getötet worden. Seit Beginn des Gaza-Kriegs kommt es an der Grenze immer wieder zu Konfrontationen zwischen Israels Armee und der vom Iran unterstützten Hisbollah-Miliz. Sie ist mit der Hamas verbündet, gilt aber als deutlich schlagkräftiger.
Nach der Festnahme dreier mutmaßlicher Mitglieder der Hamas Mitte Dezember in Deutschland will Israels Regierung Erkenntnisse gewonnen haben, wonach die extremistische Palästinenserorganisation Terroranschläge in Europa geplant habe. Eines der möglichen Ziele soll die israelische Botschaft in Stockholm gewesen sein. "Infolge anhaltender geheimdienstlicher Bemühungen kam ein beträchtliches Maß an Informationen ans Tageslicht, die beweisen, dass die Terrororganisation Hamas darauf abzielte, ihre gewalttätigen Aktivitäten ins Ausland auszuweiten, um unschuldige Menschen auf der ganzen Welt anzugreifen", teilte Netanyahus Büro am Samstagabend mit.
Während die Kämpfe im Gazastreifen am 100. Tag andauern, beklagen viele Hilfsorganisationen die weiterhin katastrophale humanitäre Lage in dem Küstengebiet. Sie fordern einen Waffenstillstand und mehr Hilfslieferungen, die zudem ungehindert in das Küstengebiet gelangen müssten.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bekräftigte angesichts des 100. Kriegstags ihre Hoffnung auf eine Freilassung aller Geiseln in der Gewalt der Hamas. "Wir geben nicht auf, wir lassen in unserer Arbeit nicht nach, bis alle Geiseln der Hamas wieder zu Hause sind", schrieb Baerbock am Sonntag auf der Plattform X. "Seit 100 Tagen fehlen Kinder, Eltern, Brüder, Schwestern, Freunde in #Israel. 100 Tage voll Ungewissheit, Verzweiflung, Trauer - und Hoffnung."