Tunnelnetz unter Gazastreifen wohl länger als vermutet
Das Tunnelnetz der islamistischen Hamas im Gazastreifen ist laut "New York Times" womöglich länger als bisher von Israel angenommen. Es sei schätzungsweise rund 560 bis 720 Kilometer lang, so die US-Zeitung unter Berufung auf hochrangige israelische Verteidigungsbeamte am Dienstag. Zuvor war eine Länge von rund 400 Kilometern kolportiert worden. Israel und die radikalislamische Hamas setzten ihre heftigen Kämpfe im Süden des Gazastreifens unterdessen unvermindert fort.
Die Zahlen zum Tunnelsystem ließen sich gegenwärtig nicht unabhängig überprüfen. Das Tunnelnetz der Islamisten - umgangssprachlich auch "Gaza-Metro" genannt - stellt eine enorme Herausforderung für die israelischen Streitkräfte dar. Der Gazastreifen selbst hat eine Länge von rund 45 Kilometern und eine Breite von etwa sechs bis 14 Kilometern.
Umfang, Tiefe und Qualität der Tunnel hätten israelische Soldaten und Regierungsvertreter überrascht, hieß es in dem Bericht der "New York Times" weiter. Es gebe zudem rund 5.700 separate Schächte, die zu den unterirdischen Gängen führten. Demnach könnten sich allein unterhalb der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens rund 240 Kilometer Tunnel befinden. Israels Armee soll demnach im Gazastreifen Dokumente wie Karten gefunden haben, mit deren Hilfe sie die Tunnel und ihre Eingänge ausfindig machen soll.
Israelische Soldaten zerstörten Armeeangaben zufolge in den vergangenen Monaten viele Kilometer der unterirdischen Routen. Beobachter gehen davon aus, dass sich die Führungsspitze der Hamas in den Tunneln versteckt und sich vermutlich mit den beim Massaker am 7. Oktober aus Israel verschleppten Geiseln umgibt.
Am Abend meldete Israels Armee, sie habe einen dieser strategisch wichtigen Tunnel der Terrormiliz Hamas zerstört. Die mehrere hundert Meter lange Anlage habe den Norden und den Süden des Gazastreifens miteinander verbunden. In einer Tiefe von neun Metern sei sie unter dem Wadi Gaza verlaufen, dem Flussbett, das Nord- und Süd-Gaza voneinander trennt. Kämpfer der Hamas hätten sich mit Hilfe des Tunnels unentdeckt zwischen dem Nord- und Südteil des Küstenstreifens bewegen können, hieß es in der Mitteilung weiter. Pioniereinheiten der Streitkräfte sprengten demnach die Anlage. Israelische Soldaten hatten schon vor Wochen entlang des Wadi Gaza Stellung bezogen, um den Hamas-Kämpfern die oberirdische Passage zwischen beiden Gebietsteilen zu verwehren.
Die heftigen Kämpfe im Süden des Gazastreifens gingen auch am Dienstag weiter. Die islamistische Palästinenserorganisation sprach von einer Welle israelischer Luftangriffe im Gazastreifen, bei der 78 Menschen getötet worden seien. Nach Angaben der israelischen Armee feuerte die Hamas in der Früh rund 50 Raketen aus dem Gazastreifen auf den Süden Israels ab.
Auf Aufnahmen der Nachrichtenagentur AFP waren Rauchschwaden zu sehen und Explosionen zu hören bei dem Versuch der israelischen Armee, die Raketen abzufangen. Bei israelischen Luftangriffen auf den Süden des Gazastreifens wurde insbesondere die Stadt Khan Younis schwer getroffen - eine Hamas-Hochburg, wo Israel führende Vertreter der Islamisten sowie die von ihnen und weiteren militanten Gruppen verschleppten israelischen Geiseln vermutet. Zuletzt hatte die israelische Armee ihre Einsätze in die Gegend der Stadt verlagert, nachdem sie eigenen Angaben zufolge die militärischen Strukturen der Hamas im Norden zerschlagen hat.
Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte am Montag gesagt, die Phase der intensiven Angriffe auch im Süden des Palästinensergebiets werde bald vorbei sein. "Im südlichen Gazastreifen werden wir dieses Ziel erreichen und es wird bald zu Ende sein." Dann beginne wie auch im nördlichen Teil des Küstengebiets die "nächste Phase". Einen genauen Zeitrahmen nannte Gallant nicht.
ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg sicherte seinem israelischen Amtskollegen Israel Katz einmal mehr Österreichs Solidarität im Kampf gegen die Hamas zu. Außerdem werden die Bemühungen zur Freilassung aller Geiseln weiter unterstützt. Schallenberg betonte in einem Posting auf X zudem die Notwendigkeit, mehr humanitäre Hilfe nach Gaza zu liefern und die Zivilbevölkerung besser zu schützen.
Unterdessen setzten die EU-Staaten den politischen Anführer der Hamas, Jahja Sinwar, wegen des Angriffs der Extremisten auf Israel auf ihre Sanktionsliste. Damit werden Sinwars Geld und andere finanzielle Vermögenswerte in den EU-Mitgliedstaaten eingefroren. Finanzielle Mittel und wirtschaftliche Ressourcen dürfen ihm aus der EU heraus nicht zur Verfügung gestellt werden. Der im Flüchtlingslager Khan Younis geborene Sinwar (61) wurde 2017 zum Hamas-Führer im Gazastreifen gewählt und war einer von 1.027 Palästinensern, die 2011 im Austausch gegen einen einzigen im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Soldaten aus israelischer Haft entlassen wurden.
Der im arabischen Raum bekannte Al-Jazeera-Korrespondent Wael al-Dahduh hat den Gazastreifen mittlerweile nach ägyptischen Angaben verlassen. Er habe auf Gesuch des ägyptischen Pressekonsortiums zur Behandlung nach Ägypten reisen können, teilte der Leiter des Konsortiums in Kairo am Dienstag mit. Al-Dahduh sei über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten gekommen und habe erklärt, dass er zur weiteren Behandlung nach Katar reisen werde. Um welche Art der Behandlung es ging, blieb unklar. Der arabische Nachrichtenkanal Al-Jazeeraa hat in Katar seinen Sitz.
Al-Dahdhu ist Büroleiter des Senders in Gaza. Er zählt dort zu den prominentesten Journalisten und ist in der arabischen Welt ein bekanntes Gesicht. Im Krieg wurden seine Frau, ein Enkel und drei seiner Kinder getötet. Al-Dahduh war zuletzt auch selbst bei einem Raketenangriff verletzt worden.