Außenpolitik Österreich

Lendvai über Weltpolitik: "Es kann immer etwas passieren"

Paul Lendvai analysiert auch mit fast 95 die Weltlage
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Für Paul Lendvai bringt das Jahr 2024 vor allem zweierlei: Sein 20. Buch, das am 29. Jänner erscheint, und seinen 95. Geburtstag, den er am 24. August feiert. Was das neue Jahr der Welt bringen könnte, auf diese Spekulation will er sich nicht gerne einlassen. "Ich bin sehr vorsichtig mit Prophezeiungen. Mein ganzes Leben ist eine Warnung, dass man nicht wissen kann, was die Zukunft bringt. Das Unmögliche kann jederzeit möglich werden", sagt er im Gespräch mit der APA.

Als weltpolitische Beispiele führt er etwa den Sturz des sowjetischen Regierungs- und Parteichefs Nikita Chruschtschow 1964 oder Deutschlands Wiedervereinigung 1990 an. Beides sei von anerkannten Experten noch kurz davor nicht annähernd vorhergesehen worden. "Ich bewundere die Futurologen und verachte sie zugleich." Weil er lieber analysiert als spekuliert, ist Paul Lendvai nicht Zukunftsforscher, sondern Journalist geworden - einer von Österreichs prominentesten. Im Wohnzimmer der Dachwohnung, die er mit seiner Frau Zsóka in Volksopern-Nähe bewohnt, stehen seine zahlreichen Bücher im Regal griffbereit, auch japanische und englische Übersetzungen sind darunter, auf einem Sideboard sind einige seiner Preise aufgestellt. "Die Urkunden hängen alle im Arbeitszimmer", erklärt der unermüdliche Publizist, der in Budapest geboren wurde, seit 1957 in Wien lebt und mehr als einer Generation von ORF-Zuseherinnen und Zusehern als Kommentator die Weltlage erklärte. Die Gründung der Zeitschrift "Europäische Rundschau" und mehr als ein Vierteljahrhundert Tätigkeit als Korrespondent der "Financial Times" zählen zu den weiteren Höhepunkten eines imposanten Berufslebens.

Ob Russland, Deutschland, Ungarn oder Balkan - Paul Lendvai kennt nicht nur die Politik, sondern auch die Politiker aus eigenem Erleben. Das macht er auch in seinem neuen Buch deutlich, das er "Über die Heuchelei" genannt hat, weil er "insbesondere die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit" in der Politik aufzeigen will. "Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik" lautet der Untertitel des Buches, in dem er u.a. darstellt, wie Russlands Präsident Wladimir Putin und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán es verstanden haben, westliche Politiker für sich einzuspannen oder sie in Sicherheit zu wiegen, bis es zu spät war. Wohin das führe, könne man an Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs sehen, sagt Lendvai.

Zurück in die Zukunft: "Das mit Abstand wichtigste Ereignis 2024 sind die Präsidentenwahlen in den USA", meint der Journalist, der es "fast unglaublich" findet, dass Ex-Präsident Donald Trump wohl erneut antreten wird. Die Bemerkung seines Gastes, das Wiederantreten des Greises Joe Biden sei doch wohl auch kein Beweis für eine vitale Demokratie, kommentiert er schmunzelnd: "Was sagen Sie da? Er ist 14 Jahre jünger als ich ..."

Den Aufschwung der Rechten und Rechtspopulisten in Österreich findet er beunruhigend. "Die Stärke und Schwäche unserer Demokratie ist, dass sie auch jenen, die diese Demokratie umbauen wollen, völlige Freiheit gibt." Medien täten "zu wenig für die Demaskierung" der Heuchler, aber zu viel für die Befriedigung der Eitelkeit der Politiker: "Ich kenne kein anderes Land, in dem Minister in Regierungsinseraten so oft abgebildet wurden wie in Österreich während der Kurz-Strache-Regierung."

Die Nachhaltigkeit von einmal gewonnenen Einsichten sei gering, klagt der Doyen des Qualitätsjournalismus. "Das kurze Gedächtnis der Menschen ist eine der größten Gefahren der Demokratie. Soziale Medien sind die Werkzeuge des künstlichen Vergessens. Dagegen kann man nur mit Bildung vorgehen." Doch viele Menschen könnten oder wollten heute nicht mehr lesen. "Viele in den politischen Eliten lesen nicht mehr, sondern lassen lesen. Es gibt sogar viele Journalisten, die nur noch ihre eigenen Artikel lesen - nämlich um zu sehen, ob daran etwas geändert wurde", schmunzelt der 94-Jährige und liest dem Gast sein Lieblingszitat des Philosophen Friedrich Nietzsche vor: "Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet man am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist."

Zu einer für ihn unangenehmen Wahrheit hat er sich durchgerungen: "Vielleicht wurde die EU zu schnell ausgebaut. Ich habe auch für die Erweiterung gekämpft, aber heute glaube ich, sie war zu schnell und zu umfassend." Dass die Europäische Union in den vergangenen Jahren in eine von Ungarn und Polen aufgebaute Doppelmühle geriet, sei "ein Konstruktionsfehler der EU", sagt Lendvai. "Man hat man nicht damit gerechnet, dass innerhalb der EU ein autoritäres Regime entsteht - und nicht nur eines." Immerhin sei die Abwahl der nationalkonservativen PiS in Polen "eines der großartigsten Dinge im vergangenen Jahr und eine unglaubliche Schwächung der Position Orbáns". Der kommenden EU-Ratspräsidentschaft Ungarns sieht der gebürtige Ungar, der seit 1959 Österreicher ist, gelassen entgegen: "Das ist eher eine Prestigesache, denn die großen Entscheidungen fallen ja im Rat." Den Orbán mit seinem Veto freilich mehr als einmal blockiert hat.

Wie geht es im Ukraine-Krieg weiter? "Der einzige Ausweg ist es, die Ukraine mit allen militärischen und finanziellen Mitteln zu unterstützen, damit der Preis für Russland zu hoch wird." Die große Gefahr liege in der US-Innenpolitik, die das Engagement der USA in Osteuropa zurückschrauben könne. "Ich bezweifle, dass die europäischen Staaten fähig sind, alleine die Ukraine genügend zu unterstützen", sagt Lendvai, der in diesem Zusammenhang Lob für Großbritannien, aber Schelte für Frankreich austeilt: "(Frankreichs Präsident Emmanuel) Macron sollte weniger reden und mehr handeln."

Und der Balkan? In seinem neuen Buch lässt er keinen Zweifel daran, dass das Pulverfass noch nicht entschärft ist. Der Nationalismus sei keinesfalls überwunden, die Situation im Nordkosovo und Albanien sei ebenso eine Gefahr wie der Schulunterricht in Serbien, der die grausamen Kriege und Massaker der jüngeren Vergangenheit verschweige. "Deswegen gilt auch hier, was ich am Anfang gesagt habe. Was wir aus der Geschichte lernen können, ist: Es kann immer etwas passieren."

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Paul Lendvai: "Über die Heuchelei", Zsolnay, 185 Seiten, 24,70 Euro)

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