Krimtataren-Führer gegen Waffenstillstandsverhandlungen
Der seit 2013 amtierende Vorsitzende der Krimtataren-Vertretung Medschlis, Refat Tschubarow, spricht sich unter den aktuellen Umständen gegen einen am Verhandlungstisch vereinbarten Waffenstillstand mit Russland aus. Ein solcher würde die Anerkennung russischer Gebietsgewinne und weitere Repressionen bedeuten, erklärte er der APA am Dienstag in Wien und verwies auf die 2014 von Russland annektierte Krim. Der ukrainische Politiker selbst war damals von dort vertrieben worden.
In der ganzen Welt und insbesondere in europäischen Staaten hätten Politikerinnen und Politiker zwar nach dem 24. Februar 2022 endlich verstanden, dass die von Russland ausgehende Gefahr nicht nur die Ukraine, sondern auch ihre eigenen Länder betreffe, sagte Tschubarow. Er schließe aber nicht aus, dass je länger der Krieg dauere, Forderungen an die Ukraine häufiger würden, sich mit Russland doch zu einigen. Beim Antalya Diplomacy Forum habe er dieser Tage diesbezügliche Aufrufe unter anderem vom türkischen Außenminister Hakan Fidan gehört. Die verwendete Formel sehe dabei vor, einen Waffenstillstand unabhängig von der territorialen Integrität und vor der Klärung dieser Fragen zu behandeln, referierte der prominente Krimtataren-Politiker, der sich in Wien unter anderem zu Gesprächen mit Diplomaten bei der OSZE aufhält.
In einem solchen Zugang scheine es zwar eine gewissen Logik zu geben. "Aber in der Situation mit Russland ist das eine Anerkennung dafür, dass sich Russland zumindest in besetzten Gebieten festsetzt. Und ganz objektiv gesehen ist das die Fortsetzung von Morden und Repressionen dort", erklärte Tschubarow. Auch auf der Krim würde das bedeuten, dass die Repressionen und die Verfolgung von Krimtataren weitergehen würden. "Und weitere zehn oder 20 Jahre Verhandlungen hießen, dass sie (Russen, Anm.) gänzlich über sie (Krimtataren, Anm.) drüberfahren und von uns nicht mehr viel übrig bleibt", sagte der Medschlis-Vorsitzende.
Ungeachtet der anfänglichen Motive des russischen Präsidenten sei er immer mehr überzeugt, dass Wladimir Putin im Jahr 2014 auch gekommen sei, um das zu vollenden, was Stalin nicht geschafft habe. "Stalin hat uns 1944 ausgesiedelt, wir waren 45 Jahren in der Vertreibung und verloren viele Menschen. Gleichzeitig haben sie sie die Krim völlig verändert, Orte unbenannt und ihre Leute angesiedelt", schilderte Tschubarow. In 23 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit habe man sich gerade etwas konsolidieren können, sich mit Schulen, Fernsehsendern und Verlagen beschäftigt. Doch dann sei Russland 2014 erneut gekommen. "Wenn sie mir jetzt sagen, wir sollten zehn Jahre verhandeln oder vielleicht sogar wie die baltischen Staaten 50 Jahre auf die Unabhängigkeit warten, dann antworte ich: So viel Zeit haben wir nicht", erläuterte er.
Der selbst 1956 im usbekischen Exil geborene Tschubarow schätzt, dass von etwa 300.000 Angehörigen seines Volkes, die vor der russischen Annexion im März 2014 auf der Krim gelebt haben und dort 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, zwischen zehn und 20 Prozent insbesondere im Zusammenhang mit Repressionen die Halbinsel verlassen haben. Dabei habe es damals gleich den populären Slogan "Qırımda yaşa" ("Lebe auf der Krim") gegeben, mit dem im Hinblick auf die traumatische Geschichte des Volkes zum Verbleiben aufgefordert wurde.
Er habe dies auch selbst versucht, sei jedoch seit dem 5. Juli 2014 an der Rückreise auf die Halbinsel gehindert worden. Von 33 zuletzt im Herbst 2013 gewählten Mitgliedern der Medschlis befänden sich zehn außerhalb der Krim, eines sei verstorben und 22 auf der Krim geblieben, erläuterte der Vorsitzende dieser nationalen Vertretungskörperschaft. "Diplomatisch gesagt haben uns fünf Personen davon verlassen, weil sie Angst bekamen", erzählte er.
Nachdem die von Medschlis 2016 von Russland zur "extremistischen Organisation" erklärt worden war, kann sie vor Ort auch nur noch im Untergrund agieren und musste ihre Tätigkeit nach Kiew verlegen, wo sie nach Tschubarows Angaben als Bindeglied der Krimtataren zu staatlichen Institutionen der Ukraine agiert. Aktuell beschäftige man sich etwa mit der Vorbereitung ukrainischer Trauerveranstaltungen, mit denen an 80 Jahren Deportation im Mai 1944 erinnert werden soll.
Keinen Zweifel ließ der krimtatarische Politiker daran, dass die Halbinsel früher oder später unter ukrainische Kontrolle zurückkehren werde. "Wir wissen freilich nicht, wie diese Befreiung der Krim aussehen wird: Vielleicht wird es eine schonende Variante sein, vielleicht aber auch schwere Kampfhandlungen geben", sagte er. Man empfehle jedenfalls auf der Krim lebenden Krimtataren Möglichkeiten zu suchen, nicht in der Nähe von Militärobjekten zu wohnen, sowie Bunker vorzubereiten. Auf jede erdenkliche Weise sollten Krimtataren die Einberufung in die russische Armee verhindern und gegebenenfalls dafür auch ins Gefängnis gehen. "Denn was einen in dieser Armee erwartet - das Töten von anderen Menschen sowie Mitbürgern, der Kampf gegen den eigenen Staat (Ukraine, Anm.) und die Perspektive, selbst getötet zu werden - ist viel schlimmer als Gefängnis", erklärte Tschubarow.
(Das Gespräch führte Herwig G. Höller/APA)