Heute in St. Pölten: Menasse über "Die Welt von morgen"
Robert Menasse ist ein glühender Europäer. Für seinen in Brüssel spielenden Roman "Die Hauptstadt" wurde er 2017 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet, "Die Erweiterung" befasste sich 2022 anhand von Beitrittsbestrebungen Albaniens mit Gegenwart und Zukunft der EU. Heute, Freitag, stellt der 69-Jährige im Festspielhaus St. Pölten im Gespräch mit Leiterin Bettina Masuch seinen neuen Groß-Essay "Die Welt von morgen" vor. Am Montag ist er damit im ORF-"KulturMontag" zu Gast.
2012 bezog sich Menasse in seinem Essay "Der Europäische Landbote", der eine treffende Analyse des Zustandes und des Zukunftspotenzials der EU gab, auf Georg Büchners 1834 verbreitete Flugschrift "Der Hessischen Landbote". Menasse, der bei seinen Recherchen in Brüssel einen Wandel vom "skeptischen zu einem solidarisch-kritischen Europäer" durchgemacht hatte, plädierte damals leidenschaftlich für "ein über engstirnige Nationalismen erhabenes Europa". Wenige Wochen vor der Wahl zum Europäischen Parlament wiederholt er nun in einem neuen Buch seine damalige Institutionenkritik und gibt ein aktuelles Update der Entwicklungen und seiner Vorstellungen einer Weiterentwicklung in Richtung nachnationales Europa angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart.
Diesmal orientiert er sich an Stefan Zweig. In "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers" schilderte dieser kurz vor seinem Freitod im brasilianischen Exil, als der Zweite Weltkrieg tobte, das kosmopolitische Europa vor 1914. "Die Welt von morgen" könnte - geht es nach Menasses Vorstellungen - den Nationalismus überwinden. Sein Realbefund sieht freilich anders aus: Krise und Krieg haben das alte, nationalistische Modell wiederbelebt. Menasse warnt eindringlich davor: "Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören."
Überraschender Weise bezieht sich Menasse zunächst gar nicht auf Zweig, sondern auf eine Anfang des 18. Jahrhunderts erschienene Flugschrift mit dem Titel "Der Europäische Niemand", die "Vorstellungen von einem friedlichen, sozialen Europa, das in kultureller Vielfalt verbunden ist", entwickelt hatte. Für Menasse ist sie ein Beispiel, dass es immer schon Visionen eines nicht nationalstaatlichen Europas gab, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner einander solidarisch und gleichberechtigt verbunden sind. Die Habsburgermonarchie ist für Menasse, so kommt Stefan Zweig doch noch ins Spiel, eines der historischen Beispiele, wie das gelingen kann. Sie war "ein sogenannter Vielvölkerstaat, ohne Nationsidee und ohne eine Nationswerdung zu beabsichtigen", schreibt er - und sieht gelegentlich beim Hervorheben der damaligen positiven Ansätze die Gefahr, als "Habsburg-Nostalgiker" missverstanden zu werden. Doch auch das Ende der Monarchie sieht er nur als Beweis für seine These: "Supranationale oder nachnationale Staatlichkeit scheitert nur an einem Problem: an den Nationalisten."
"Vor rund siebzig Jahren sind europäische Nationen bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten", nimmt Menasse dann Bezug auf die Gründung der EU, und wie schon in "Der Europäische Landbote" nimmt er die strukturellen und demokratiepolitischen Schwächen und die Gewichtsverschiebung in der realen EU-Politik zugunsten des Rats aufs Korn. Dass dem Europäischen Parlament kein Initiativrecht zugebilligt wurde hält er weiterhin für ebenso bedenklich wie die nationalen Listen der EU-Wahlen und die Tatsache, dass die EU-Kommissionspräsidentschaft nicht vom Volk gewählt werde. Menasse plädiert aber dafür, vor einer nötigen großen EU-Strukturreform zunächst einmal die geltenden Regeln wieder ernst zu nehmen, die Kommission in ihrer ursprünglichen Aufgabe als aktive "Hüterin der Verträge" zu stärken und den größer gewordenen Einfluss der Nationalstaaten auf die Gemeinschaftspolitik wieder zurückzudrängen.
Menasse streift die Leitkultur-Debatte und die versuchte Aufweichung der Europäischen Menschenrechtskonvention, beschäftigt sich mit Angst als Triebfeder der Politik, der rechten Anti-EU-Hetze und einem Essay von Robert Musil mit dem Titel "Der deutsche Mensch als Symptom". Er beeindruckt mit der Montage von martialischen, bluttriefenden Zeilen aus Nationalhymnen von EU- Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten und erzählt von seinen frustrierenden Erfahrungen in einem EU-Thinktank. "Man möchte zum EU-Gegner werden, wenn man sich mit dem Zustand der EU und ihren unproduktiven Widersprüchen beschäftigt", gibt Menasse zu, er bestehe aber darauf, "die Idee zu verteidigen, die Abwege zu kritisieren und endlich zu diskutieren, kühn denkend, worum es der Idee nach geht", nämlich um "ein souveränes, demokratisches, nachnationales Europa".
(S E R V I C E - Robert Menasse: "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa - und seine Feinde", Suhrkamp Verlag, 192 Seiten, 23,70 Euro; Pre-Lecture heute, Freitag, 12. April, 17 Uhr, im Salon D des Festspielhauses St. Pölten)