Regierungschef unter Druck

Israels Armee befreit vier Hamas-Geiseln, Kritik an Premier Netanyahu

Während auf der einen Seite bei manchen die Erleichterung über die befreiten Geiseln groß ist, lies die Kritik an Israels Staatschef Netanyahu nicht lange auf sich warten.
© Israeli Army/HANDOUT

Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben vier im Gazastreifen festgehaltene Geiseln befreit. Kritik an einem medienwirksamen Treffen von Regierungschef Netanyahu kam kurze Zeit darauf.

Tulkarem, Kairo – Israelische Spezialkräfte haben im Zentrum des Gazastreifens nach Armeeangaben vier Geiseln aus der Gewalt der Hamas gerettet. Die am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival Entführten seien am Samstag bei zwei Einsätzen im Flüchtlingsviertel Nuseirat befreit worden, teilte das Militär mit. Es handelt sich demnach um eine 25 Jahre alte Frau und drei Männer im Alter von 21, 27 und 40 Jahren. Die Palästinenser im Gazastreifen beklagen über 200 Tote.

Mutmaßlich im Zusammenhang mit der israelischen Befreiungsaktion wurden nach Angaben einer Behörde der militanten Palästinenser-Organisation Hamas 210 Palästinenser getötet. In Nuseirat im Zentrum des Küstengebiets seien zudem rund 400 Menschen verletzt worden. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde sowie medizinische Kreise im Gazastreifen hatten zuvor von 55 Toten gesprochen. Israels Armeesprecher Daniel Hagari wiederum sprach am Abend von weniger als 100 Todesopfern. „Ich weiß nicht, wie viele davon Terroristen sind“, sagte er.

Das Medienbüro der Hamas sprach von „einem beispiellosen, brutalen Angriff auf das Flüchtlingslager Nuseirat“. Das Al-Aqsa-Krankenhaus befinde sich in einer katastrophalen Lage. Berichten zufolge gab es heftige Luftangriffe und Artilleriebeschuss in der Gegend. Auf Aufnahmen, die Szenen aus dem behandelnden Krankenhaus zeigen sollen, sind blutüberströmte Opfer, Tote und verletzte Kinder zu sehen. Berichten zufolge soll in der Al-Aqsa-Klinik in Deir al-Balah völliges Chaos ausgebrochen sein.

Zivilisten als Schutzschild missbraucht

Bei der Befreiungsaktion hätten Extremisten Zivilisten als Schutzschilde missbraucht, sagte Armeesprecher Hagari. In den beiden Wohngebäuden, aus denen die vier Geiseln befreit worden seien, hätten Familien und bewaffnete Wächter die Geiseln festgehalten. Die Einsatzkräfte seien heftigem Beschuss ausgesetzt gewesen, sagte der Sprecher weiter. Palästinenser seien mit Panzerfäusten auf die Straßen gelaufen, um die Soldaten anzugreifen. Die israelischen Einsatzkräfte feuerten Hagari zufolge aus der Nähe und aus der Luft zurück. Die Angaben des Militärs ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Israelischen Polizeiangaben zufolge wurde bei dem Einsatz auch ein hochrangiger Beamter getötet.

Nach Angaben Hagaris wurden die Befreiten medizinisch untersucht und im Krankenhaus mit ihren Familien wieder vereint. Medien zeigten bereits das glückliche Wiedersehen der 25 Jahre alten Frau mit ihren Angehörigen.

Der Auslandschef der Hamas, Ismail Haniyeh, bezeichnete Israels jüngste Einsätze in Gaza als "Massaker" an den Palästinensern. „Der Feind setzt sein Massaker gegen unser Volk, unsere Kinder und Frauen, in Nuseirat und Deir al-Balah fort“, teilte Haniyeh mit. Israel habe "militärisch, politisch und moralisch versagt". Es blieb unklar, ob er sich direkt auf die Nachricht über die Befreiung der Geiseln aus Gewalt der Hamas bezog.

Kritik an Israel Staatschef Netanyahu

Kurz Zeit nach der Freilassung geriet Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in die Kritik, weil er sich medienwirksam mit befreiten Geiseln, nicht aber mit Opferfamilien getroffen hat. „Wenn man Ministerpräsident ist, dann ist man Ministerpräsident der Erfolge und der Niederlagen“, sagte Oppositionsführer Yair Lapid dem israelischen Sender Kan. „Nur dann Regierungschef zu sein, wenn alles klappt, und zu verschwinden, wenn alles nicht so läuft, wie man will, das ist erbärmlich.“

Netanyahu hatte sich am Samstag – noch während des jüdischen Ruhetags Sabbat – im Krankenhaus mit vier aus dem Gazastreifen befreiten Geiseln getroffen und fotografieren lassen. Familien von Israelis, die während des Hamas-Massakers am 7. Oktober getötet worden waren, sowie Angehörige von getöteten Geiseln kritisierten dagegen nach Medienberichten, weder Netanyahu noch andere Regierungsvertreter hätten mit ihnen Kontakt aufgenommen.

Der Vater eines am 7. Oktober getöteten Soldaten schrieb bei X: „Ein Ministerpräsident mit moralischen Werten hätte angerufen, um (uns) zu trösten und zu stärken. Und um sich zu entschuldigen für das, was unter seiner Verantwortung passiert ist.“ Sein Urteil zu Netanyahu: „Ich verachte ihn, ein schäbiger Mensch.“

Vater einer Geisel starb kurz nach Freilassung

Nur Stunden vor der Rückkehr seines Sohnes starb der Vater des 22-jährigen Almog Meir, der am Samstag nach acht Monaten Geiselhaft befreit worden war. Sein Vater wurde jedoch nach seiner Befreiung tot aufgefunden, wie der israelische Kan-Sender am Sonntag berichtete. Der 57-Jährige Jossi Jan sollte Sonntagnachmittag beigesetzt werden. Die Schwester des Verstorbenen erzählte dem Sender, sie habe einen Anruf von der Armee bekommen.

Man habe ihr gesagt, ihr Neffe sei befreit worden, man könne aber den Vater nicht erreichen. Sie sei daraufhin zum Haus ihres Bruders gefahren, um ihm die frohe Botschaft zu übergeben. Sie sei durch die offene Tür ins Wohnzimmer gegangen, nachdem er auf das Klopfen und Rufen nicht reagiert habe. Sie habe ihn dort tot aufgefunden. „Mein Bruder ist vor Gram gestorben und hat seinen Sohn nicht zurückkehren sehen“, sagte sie. „In der Nacht vor Almogs Rückkehr hat sein Herz aufgehört zu schlagen.“