Expertin: Argentinien nach sechs Monaten Milei im „Schockzustand"
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Der unpopuläre Staatschef Javier Milei setzt auf neoliberale Reformen. Es kommt zu Protesten und teils gewaltsamen Zusammenstößen.
Buenos Aires – Ende 2023 hat die Wut vieler Argentinier auf die Dauerkrise und auf das politische Establishment den ultraliberalen Javier Milei ins Präsidentenamt getragen. Mit zerzaustem Haar versprach der Exzentriker eine radikale Wende. Ein halbes Jahr später ist die Wende nicht eingetreten und Mileis Popularität eingebrochen.
Resignation macht sich breit
Die Inflation liegt bei fast 290 Prozent. Laut Studien leben 55 Prozent der Argentinier unter der Armutsgrenze. Im ganzen Land mache sich Resignation breit, berichtet die Soziologin Maristella Svampa. Sie spricht von einem Schockzustand.
Die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Aber der neoliberale Reformkurs, den Milei durchzudrücken versucht, belastet gerade die Ärmeren noch mehr.
Feindbild „Staat“
„Viele Familien haben Schwierigkeiten, ihren Kühlschrank zu füllen", sagt Svampa. Milei hatte bald nach Amtsantritt Tausende Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, Subventionen gekürzt und Sozialprogramme abgewickelt. Zu Mileis Feindbild „Staat“ gehören auch alle, die seiner Meinung nach vom „Staat“ profitieren. Gemeint sind unter anderem Bezieher von Sozialleistungen, Beamte, Minderheiten und Frauen.
„Diejenigen, die unter den Maßnahmen leiden, die Milei anwendet, sind jene, die ihn überhaupt ins Amt befördert haben", sagt Svampa. Nun ist die Popularität des Präsidenten eingebrochen. Proteste, Demos und Streiks gehören zum Alltag.
Grausamkeit in der Politik
Eine Parlamentsmehrheit hatte Milei von Anfang an nicht hinter sich. Er musste sich für Gesetzesvorhaben Partner suchen und seine Pläne abspecken. Trotzdem bleibt noch viel „Grausamkeit“ (Svampa) übrig. Das ist der Hintergrund, vor dem es in der Nacht auf Donnerstag vor dem Kongressgebäude erneut zu Krawallen kam.
Drinnen verabschiedete der Senat mit hauchdünner Mehrheit ein Reformpaket. Es sieht unter anderem die Privatisierung von Staatsbetrieben, Steuererleichterungen für Großinvestoren sowie Arbeitsmarkt- und Steuereformen vor. Bevor Milei es unterzeichnen kann, muss auch die Abgeordnetenkammer zustimmen.
Schlagstöcke und Tränengas
Das Präsidialamt feierte die Abstimmung im Senat als historisch. Dies sei „ein Sieg des argentinischen Volkes und der erste Schritt zur Wiederherstellung unserer Größe". Vor dem Kongressgebäude gingen indessen Polizisten mit Schlagstöcken und Tränengas gegen Regierungsgegner vor. Mehrere Autos gingen in Flammen auf. (TT, APA, dpa)