Tag 2 beim Bachmann-Wettbewerb: Ein Text im „Sonntagsg‘wandl“ und ein Tag im Baumarkt
Familie, Erinnerungen und Räume sind die zentralen Themen des heurigen Wettlesens um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Am Freitagvormittag zeichneten sich außerdem erste Favoriten ab.
Klagenfurt – Henrik Szántó und Denis Pfabe dürfen sich auf den Sonntag freuen, wenn der Ingeborg-Bachmann-Preis vergeben wird. Die beiden Autoren wurden am Freitagvormittag bei den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für ihre Texte von der Jury groß gelobt – und dürften damit im Rennen um eine der Auszeichnungen sein. Außerdem machten die ersten Texte des zweiten Tages deutlich: Heuer sind Familien, Erinnerungen und Räume die zentralen Themen.
Eröffnet wurde der Vorlese-Freitag von der deutschen Autorin Sophie Stein mit ihrem Text „Die Schakalin“. In die beschriebene Urlaubsstimmung unter jungen Leuten im Donaudelta mischt sich vom ersten Moment etwas Ungewisses, Unheimliches. Nicht nur die titelgebenden Schakale, auch die Menschen sind unberechenbar. Es geht um die Teilnahme an „Korrekturen“, doch was genau Kat von Andrei will, bleibt vage.
Viele Adjektive, wenig Unheimliches
Stein las auf Einladung von Mara Delius, die ein Spiel mit „Effekten des Erschauerns und Erschauderns“ und eine „fast Tarkowski-artige Atmosphäre“ ortete. Während Mithu Sanyal den Text „sehr magisch“ fand und „viele Frankenstein-Anklänge“ ortete, hatte Klaus Kastberger den „Verdacht, dass dieser Text einem philosophisch-naturwissenschaftlichen Seminar entlaufen sein könnte“. Mit einem Nestroy-Zitat meinte der Juryvorsitzende, dieser Text habe „ein Sonntagsg'wandl an“, denn er leide an „Adjektivitis“. Daher habe er wenig mit dem Text anfangen können, erklärte Kastberger. Auch Brigitte Schwens-Harrant urteilte kritisch: Aus dem Unheimlichen mache Stein zu wenig. Fazit: Zu viele Adjektive, zu wenig Unheimliches – die Aussicht auf eine Auszeichnung ist eher mau.
„Ein Aufzählen gegen das Vergessen“
„Eine Treppe aus Papier" hieß der Text des in Frankfurt am Main geborenen finnisch-britischen Autors und Slam-Poeten Henrik Szántó. Szántó hat Deutsch als Fremdsprache gelernt. Er ist mit Ungarisch und Finnisch aufgewachsen. Mit der furiosen Aufzählung eines erzählenden „Wir“ beginnend, umkreist der Text Vergangenheit und Gegenwart anhand eines mehrstöckigen Wohnhauses, in dem das Echo der NS-Zeit ebenso präsent ist wie die Erfahrungen späterer Bewohner. Außerdem gibt es eine alte Fliegerbombe, die alles in die Luft jagen könnte.
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„Ein Anschreiben, ein Aufzählen gegen das Vergessen“ ortete Laura de Weck, „einen extrem originellen Text“ Mithu Sanyal. Kastberger lobte den „ganz fulminanten Text“, der „in seinen literarischen Formen höchst innovativ“ sei und in seinem Weiterwirken der Vergangenheit auch auf Bachmann Bezug nehme: „Ich bin voll und ganz begeistert.“ Auch Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler zeigten sich beeindruckt und hatten nur kleinere Einwände, etwa eine Überdeutlichkeit des Endes, wo ein dänischer Immobilienkonzern einen Abriss und Neubau andenkt. Mara Delius, sie hat Szántó nach Klagenfurt eingeladen, lobte zudem den Vortrag des Autors.
Meinungsverschiedenheiten im Baumarkt
„Die Möglichkeit einer Ordnung“ nannte der von Philipp Tingler nominierte deutsche Autor Denis Pfabe seinen Beitrag. Er beschloss den Vormittag. Die Erzählung spielt in einem Baumarkt, in dem ein zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankender Mann die Renovierung des von den Schwiegereltern abgekauften Hauses vorantreiben will. Zwischen einer Fülle von Auftragslisten und Informationsgesprächen mit Verkaufsberatern mischt sich der Versuch einer persönlichen Nähe inmitten einer Vielzahl von Material, in dem der Käufer unterzugehen droht. Er verlässt den Baumarkt an diesem Tag auch nicht, als dieser zusperrt.
„Baumärkte mag ich prinzipiell mal gar nicht“, eröffnete Schwens-Harrant die Jurydiskussion. Dem Text konnte die Literaturwissenschaftlerin aber trotzdem viel abgewinnen. Mara Delius fand ihn gar „meisterhaft“, „extrem komponiert“ und „souverän mit Suspense“ spielend. Laura de Weck ortete einen „Versuch, etwas zutiefst Emotionales mit etwas Technischem zu lösen“. Tingler betonte die surrealen Elemente des Textes. Thomas Strässle fand ihn hervorragend. Klaus Kastberger langweilig. Auch er habe eine Abneigung gegen Baumärkte, erklärte der Juryvorsitzende, und sei wohl nicht der richtige Leser für den Text.
Mit „zu gut versteckten Überraschungseiern“ in den Nachmittag
Den Nachmittag eröffnete die deutsche Autorin Olivia Wenzel mit ihrem Text „Hochleistung, Baby“, der wohl eines der ungewöhnlichsten Sujets des bisherigen Bewerbs bot: Eine junge Mutter nutzt einen Urlaub mit Freundinnen und deren Kindern, um einen nun Bootsausflüge anbietenden Ex-Profifußballer zu interviewen. Als dem Boot der Sprit ausgeht, findet sie sich mit ihm auf einer einsamen Insel wieder und bittet ihn, ihr bei der Beseitigung des Milchstaus in ihren Brüsten zu helfen. Am Ende erweist sich das dramatische Abenteuer wohl als geträumt.
Die Jury zeigte sich sehr uneins. „Das ist mein absoluter Lieblingstext“, meinte Mithu Sanyal und bezog sich etwa auf die formale Verschränkung der verschiedene Ebenen und seine Welthaltigkeit. „Ein faszinierender Text, der vordergründig ziemlich auf der Klaviatur der Effekte spielt“, meinte Thomas Strässle.
Während Klaus Kastberger darin eine kunstvolle Traumnovelle entdeckte, bezeichnete ihn Mara Delius als Thesenstück über aktuelle Themen wie Mutterschaft, Rassismus, Umweltverschmutzung und Selbstfindung der Frau. Gleichzeitig sei er aber „ein zutiefst konservativer Text, der auf der sprachlichen Ebene sehr wenig macht“. Philipp Tingler fand ihn „konventionell“: „Wenn man die Kriterien von Komposition, Form und Sprache anlegt, finde ich das nicht besonders bemerkenswert.“
Als einzige Autorin bisher schaltete sich Olivia Wenzel in die Diskussion ein und bekannte, manches vielleicht „zu verrätselt“ zu haben. Ihr Text habe vielleicht „zu gut versteckte Überraschungseier“.
„Geschmacksmäßig am Rand“: Kaśka Bryla spaltete die Jury
Den Freitag beschloss die Wienerin Kaśka Bryla mit „Der Kakerlakenschwarm“. Damit ist wohl die Corona-Pandemie gemeint, die das Leben der Ich-Erzählerin drastisch verändert hat. In die körperliche Erschöpfung am Dixi-Klo mischen sich Gedanken an die Gulag-Erfahrungen des Vaters sowie ihre Zuwendung an das Krähenbaby Karl.
Die Jury zeigte sich von der langsamen und kräftigen Lesung des nahezu punktlos geschriebenen Textes, den man sich atemloser vorgestellt habe, erstaunt. „In einem Text Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu behandeln, fand ich stark“, meinte Laura de Weck. „Manchmal kam mir der Text vor wie ein Insta-Feed.“ Die Erzählstränge seien offengelegt, sie wünsche sich eine Fortführung.
Das wünsche er sich keinesfalls, sagte Thomas Strässle, der überdies einwendete, die Verbindung zwischen Corona und Gulag zu ziehen, „finde ich geschmacksmäßig am Rand“. Schwens-Harrant verteidigte den von ihr eingeladenen Text mit Verve und konnte damit Philipp Tingler gar nicht überzeugen. Er ortete „Selbstbezüglichkeit“ und eine „wirklich obsolet gewordene Art von Literatur“. Kastberger überraschte damit, dass er sich zum „Team Tingler“ bekannte, während sich Mara Delius als Mitglied des „Teams Schwens-Harrant“ einordnete.
Am Samstag lesen Semi Eschamp (10 Uhr), die in Hamburg lebende Österreicherin Johanna Sebauer (11 Uhr), Miedya Mahmod (12.30 Uhr) sowie zum Abschluss um 13.30 Uhr die in Wien lebende slowenische Musikerin und Autorin Tamara Štajner. Der Ingeborg-Bachmann-Preis und die weiteren Auszeichnungen werden dann am Sonntag vergeben.
3sat überträgt das Wettlesen sowie die Preisverleihung bereits zum 36. Mal. Der gesamte Bewerb wird zudem im Deutschlandradio und als Livestream auf der Homepage des Bachmann-Preises übertragen. (APA, jole)