Entsetzen über Orbán: EU-Kommission boykottiert Vorsitz Ungarns
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich am Donnerstag dem EU-Parlament zur Wiederwahl stellt, reagiert auf Orbáns als „Friedensmission“ inszenierte Reise nach Moskau. Die Maltesin Roberta Metsola wurde gestern als Präsidentin des Europaparlaments wiedergewählt.
Brüssel, Budapest, Straßburg – EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reagiert mit einer Boykott-Entscheidung auf die Alleingänge von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán in der Ukraine-Politik. Von der Leyen, die am Donnerstag als Kommissionspräsidentin wiedergewählt werden will, ließ ankündigen, dass an künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn keine Kommissarinnen oder Kommissare, sondern nur ranghohe Beamte teilnehmen werden. Ungarn kritisiert die Entscheidung scharf.
Verzicht auf Antrittsbesuch
Außerdem verzichtet die EU-Kommission auf den traditionellen Antrittsbesuch bei der ungarischen Präsidentschaft. Hintergrund der Entscheidung von der Leyens ist eine mit der EU nicht abgestimmte Auslandsreise von Orbán wenige Tage nach dem Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Orbán hatte dabei im Anschluss an einen Besuch in Kiew in Moskau Kremlchef Wladimir Putin getroffen und dies als „Friedensmission" zur Lösung des Ukraine-Konflikts inszeniert. Später reiste er dann auch noch nach Peking zu einem Gespräch mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping sowie in die USA, wo er nach dem NATO-Gipfel mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump zusammentraf.
Orbáns Reisen stießen auf laute Kritik
Orbáns Reisen stießen auf großen Unmut in der EU - vor allem, weil der Kreml den Moskau-Besuch für seine Propaganda ausschlachten konnte und Orbán bei der Reise in der Ukraine-Politik nicht die EU-Position vertrat. Die Europäische Kommission machte mehrfach klar, dass Orban nicht im Namen der Staatengemeinschaft unterwegs sei. Ebenso äußerten sich einige EU-Länder. Darüber hinaus fordern 63 EU-Abgeordnete in einem Brief an die EU-Institutionsspitzen einen Entzug des Stimmrechts Ungarns im Rat der EU. „Der ungarische Vorsitz hat gerade erst begonnen, und Premierminister Orbán hat bereits erheblichen Schaden angerichtet“, heißt es. Das Schreiben wurde vom Esten Riho Terras (EVP) initiiert. Aus Österreich haben die designierten NEOS-Abgeordneten Helmut Brandstätter und Anna Stürgkh sowie ÖVP-Mandatar Lukas Mandl den Brief unterzeichnet.
Ungarn reagiert verärgert
Ungarns Europaminister János Bóka schrieb auf der Plattform X, die ungarische Ratspräsidentschaft „bleibt einer loyalen Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten und Institutionen verpflichtet“. Die EU-Kommission „kann sich nicht die Institutionen und Mitgliedstaaten herauspicken, mit denen sie zusammenarbeiten möchte“, so der Minister. Kinga Gal, Vizepräsidentin von Orbans Fidesz-Partei, schrieb auf X, der Schritt sei Teil von von der Leyens Wahlkampf. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass sie die EU-Institutionen, insbesondere gegen Ungarn, für politische Erpressung und Druck benutzt.“ Das sei inakzeptabel und widerspreche dem Wesen der europäischen Zusammenarbeit.
Nehammer gegen Boykott der ungarischen Ratspräsidentschaft
Zum Boykott der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft durch die EU-Kommission hat die Bundesregierung keine gemeinsame Linie. „Ich halte nichts davon, EU-Räte der Regierungschefs oder Fachminister zu boykottieren", sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP). Sozial- und Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) will sich dagegen dem Boykott anschließen.
„Orban hat einen Tabubruch begangen, über den man diskutieren muss", so Nehammer. “Wir sollten dies aber nicht mit einem weiteren Tabubruch, nämlich einem Boykott beantworten", erklärte er. Man muss Orban mit seiner unabgestimmten Vorgangsweise konfrontieren, aber nicht die Ratspräsidentschaft boykottieren", so der Kanzler.
Ursula von der Leyen kämpft um Wiederwahl
Für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommt am Donnerstag der Moment der Wahrheit: Das Europaparlament stimmt über eine zweite Amtszeit der 65-jährigen Deutschen ab. Zuletzt warb von der Leyen hinter verschlossenen Türen um Stimmen. Sie stand den Abgeordneten ihrer eigenen EVP, der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen in mehrstündigen Anhörungen Rede und Antwort.
Die deutsche CDU-Politikerin sollte eigentlich mit den Stimmen ihrer EVP, der Sozialdemokraten und der Liberalen für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt werden. Für eine Wiederwahl benötigt die Kommissionschefin eine absolute Mehrheit von 361 Stimmen. Zusammen verfügen die drei Fraktionen zwar über 401 der 720 Sitze, aber auch unter ihnen dürfte es Abweichler geben, die nicht für von der Leyen stimmen werden. 2019 erhielt sie nur neun Stimmen mehr als notwendig.
Eine Zusammenarbeit mit der neugegründeten Rechtsaußen-Fraktion „Patrioten für Europa", der auch die FPÖ angehört, schloss sie aus, nicht aber mit den nationalistischen Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
FPÖ-Chef Herbert Kickl hat unterdessen die ÖVP als Teil der EVP aufgefordert, gegen die Wiederwahl von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu stimmen.
Roberta Metsola wiedergewählt
Die Maltesin Roberta Metsola von der europäischen Volkspartei (EVP) wurde am Dienstag mit 562 Stimmen als Präsidentin des neu zusammengesetzten Europaparlaments wiedergewählt. Sie erhielt somit deutlich mehr als die für eine Mehrheit nötigen 312 Stimmen und ist nun für weitere zweieinhalb Jahre gewählt. Ihre einzige Konkurrentin, die Spanierin Irene Montero von den europäischen Linken, erhielt 61 Stimmen.
Sie sieht sich als Brückenbauerin: „Ich möchte mit Ihnen allen zusammenarbeiten und die Menschen zusammenbringen." Die Rolle des Parlaments müsse gestärkt werden: Es müsse ein “politisches Powerhouse" werden. (TT, APA, dpa)