ImPulsTanz: Mehr Analyse als Tanz in Bels "Non human dances"
Wie sieht Tanz aus, der uns Nichtmenschliches sehen und fühlen lässt? Diese Frage stellen Choreograf Jérôme Bel und Kulturhistorikerin Estelle Zhong Mengual mit ihrem analytisch begleiteten Tanzset aus historischen und zeitgenössischen Werken, die Natur darstellen. ImPulsTanz brachte die "Non human dances" des französischen Duos am Mittwochabend zur österreichischen Erstaufführung ans Wiener Volkstheater. Eine Lecture-Performance mit deutlich mehr Lecture als Performance.
Mit einem gewöhnlichen Theaterabend kann diese 75-minütige ImPulsTanz-Show wohl kaum verwechselt werden. So entsteht schon in den ersten Minuten die Atmosphäre einer Universitätsvorlesung - wenn auch in ästhetisch-theaterlichem Ambiente. Die sieben präsentierten Choreografien, beginnend mit einer versuchten Rekonstruktion von "Der Auftritt der Sonne" aus dem 17. Jahrhundert, werden von Zhong Mengual nach jeder Darbietung unterbrochen. Auf ihre Worte "Wir werden mehrere Stücke zeigen. Sie können mit dem Applaus gerne bis zum Ende warten." folgte bei der Premiere... Applaus. Und anschließend eine anspruchsvolle Analyse und Bewertung des Tanzes im Hinblick auf die Darstellung von Nichtmenschlichem.
Nichtmenschlich: Das sind Tiere, Pflanzen, natürliche Lebensräume - in der westlichen Kultur zumeist vom Menschen getrennt, ja diesem gar untergeordnet. Doch weshalb solch eine Hierarchie? Tanzkonzeptualist Bel ruft mit seinem von der Klimakrise inspirierten Werk zu rücksichtsvollerem Umgang mit der Natur auf, appelliert, die eigenen Herangehensweisen zu hinterfragen. Wahrlich kein Abend für die Sinne, sondern ein Abend fürs Hirn. Mitdenken ist gefragt.
Das Tanzset erhebt zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ikonische Werke wie Pina Bauschs "Nelken" (1982), Loïe Fullers "Serpentinentanz" (1892) und Isadora Duncans "Water Study" (Anfang 20. Jhdt.) dürfen dennoch nicht fehlen. Während die durch Krümmungen des Rückens und sanfte Armschwünge entstehenden Wellenbewegungen der "Water Study" ästhetisch ansprechen, stellen sie leider, wie Zhong Mengual erläutert, eine zu einseitige und anthropozentrische Darstellung der Natur dar.
Der gleich zwei Mal performte "Serpentinentanz" offenbart hingegen eine scheinbar unerschöpfliche Fülle an flüchtigen Impressionen des Lebens. Vogel, Lilie, Orchidee und Schmetterling - durch ein Spiel aus Licht und Schatten tritt der menschliche Körper in den Hintergrund, verschwindet in den Bewegungen des flatternden Seidenstoffs. Und das Thema des Verschwindens wird auch im Anschluss an einen Ausschnitt aus "Nelken" beleuchtet. Hier ist es die Wiederkehr der Jahreszeiten - verkörpert durch einfache, repetitive Gesten -, derer wir uns als Folge des Klimawandels nicht mehr sicher sein können. Eine Bedrohung: für Menschen und Nichtmenschen, wie dies die jüngste Choreografie des Abends ("Schneekranich", 2019) von Rumäne Sergiu Matis hervorhebt. Tanz findet sich durch das Artensterben in einer neuen Rolle wieder: als Archiv verlorenener Bewegungen.
Dem Tierreich nähern sich auch Lev Ivanov und Marius Petitpa mit ihren Schwan-inspirierten Bewegungen an, die Teil des klassischen Ballettrepertoires wurden. Doch der Star des Abends lässt bis zum Schluss der Performance auf sich warten: Xavier Le Roys "The lions' vocabulary" lässt alle Performenden entkleidet auf die Bühne kriechen, in unterschiedlichen Positionen verweilen. Scheinbar ereignislos, doch alles andere als bedeutungslos. Durch die Loslösung vom menschlichen Spektakel und ein hohes Maß an Detail wird das Nichtmenschliche hier nicht bloß Inspiration für Tanz, sondern Teil des Tanzes.
Ein letztes Mal tritt Zhong Mengual vor das Publikum, lädt mit einem gelungenen Fazit zur Betrachtung des eigenen Körpers und schließlich zum Umdenken ein. Wer die im Laufe der Show gesammelten Erkenntnisse nicht vergessen möchte, sollte das universitäre Setting zum Mitschreiben nutzen. Denn auf den Druck eines Programmhefts verzichtet Bel aus Umweltgründen. Nach dieser Performance kann man also keinen Theaterzettel nachhause nehmen. Wohl aber verpasst der "Philosoph des Tanzes" mit seiner Show einen Denkzettel.
(Von Selina Teichmann/APA)