Forscher: Antisemitismus in Österreich massiv zugenommen
In Folge des Großangriffs der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel hat der Antisemitismus in Österreich "massiv zugenommen". Sowohl die Quantität als auch die Qualität der Vorfälle haben sich gesteigert, sagt der Historiker Gerald Lamprecht, im Gespräch mit der APA, unter Verweis auf die zuständige Meldestelle. Gleichzeitig gebe es auch eine starke Zunahme des antimuslimischen Rassismus' sowie eine massive Verschärfung des gesellschaftspolitischen Diskurses.
Gemäß dem Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle hat sich seit dem Hamas-Angriff die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle verfünffacht. Wurden in Österreich bis zum 7. Oktober 2023 im Schnitt 1,55 Vorfälle gemeldet, waren es danach 8,31. Die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle lag im Vorjahr insgesamt bei 1.147. Dies reichte von Beschimpfungen, Beschmierungen von Hausmauern bis zu einem Brandanschlag auf die Zeremonienhalle im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs. Demgegenüber verzeichnete die Dokumentationsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus im Vorjahr 1.522 Fälle von rassistischen Übergriffen auf Musliminnen und Muslime. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Dokumentation 2015.
Eine Verschärfung des Diskurses in der Gesellschaft sei zwar schon seit der Covid-Pandemie feststellbar gewesen, sagt der Professor am Centrum für jüdische Studien der Universität Graz und Leiter der Forschungsgruppe "Antisemitismusforschung" der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Der 7. Oktober war wie ein "Katalysator". Debatten zum Thema Nahost hätten einen "starken Bekenntnischarakter", so der Experte. Das heißt, es seien kaum Diskussionen möglich, sondern es gebe den "Zwang", sich für eine Seite auszusprechen. Damit einhergehend sei eine Ablehnung der anderen Seite und die Weigerung, "das Leid der Anderen" anzuerkennen.
Der Nahost-Konflikt ist Projektionsfläche für Antisemitismus, sagt Lamprecht. Dabei sei Kritik am Handeln Israels nicht per se antisemitisch, aber sehr häufig ist sie es, ergänzt er. Zur Bestimmung von Antisemitismus verweist der Forscher auf die sogenannte "3D-Regel".
Die 3D-Regel besagt, dass eine Äußerung antisemitisch ist, wenn eine De-Legitimation des Staats Israel stattfinde und dem Staat das Existenzrecht abgesprochen werde. Der zweite Punkt betrifft die Dämonisierung, also die Darstellung Israels als einzig Schuldigen und "das Böse" schlechthin. Drittens kommen doppelte Standards hinzu. Gemeint sei damit, dass Israel etwas nicht zugestanden werde, was bei anderen Ländern als zulässig gelte: Das Recht auf Selbstverteidigung etwa.
Dieser Punkt scheint besonders umstritten, weil es auch um die Frage der Verhältnismäßigkeit der militärischen Verteidigung und der Einhaltung des Völkerrechts durch Israel geht. Kritik an Israel ist legitim, sagt Lamprecht. Es gehe aber darum, wie die Kritik geäußert wird. Das sei von Fall zu Fall zu entscheiden.
Beim Antisemitismus gebe es unterschiedliche Akteure: neben rechtsextremen Gruppierungen, radikalen Linken und Menschen mit muslimisch-arabischem Hintergrund seien auch viel Akteure aus der gesellschaftlichen Mitte zu nennen. In der medialen Berichterstattung wurden insbesondere Universitäten als zentrale Orte antiisraelischer, propalästinensischer und antisemitischer Aktivitäten ausgemacht, so Lamprecht. Doch die Situation an österreichischen Universitäten lasse sich in keiner Weise mit den Ausschreitungen an Universitäten in den USA oder auch in Deutschland vergleichen. Das Protestcamp am Alten AKH in Wien oder propalästinensische Veranstaltungen an der Universität für angewandte Kunst seien nicht mit den Vorfällen an der New Yorker Columbia University oder Hochschulen in Berlin vergleichbar.
Um dem Antisemitismus zu begegnen, plädiert Lamprecht für Aufklärung. Bildung und Gespräche seien wesentlich. Der gesellschaftliche "Grunddiskurs" müsse sich ändern und damit die Erkenntnis, dass die Welt "nicht schwarz und weiß, sondern vielfärbig und vielstimmig" sei. Es gehe um die Anerkennung, dass es unterschiedliche Perspektiven gebe und wechselseitige Ausgrenzung nichts verbessere.