Großangriff mit Streumunition auf ukrainisches Energiesystem
Die Ukraine hat am Donnerstag massive russische Luftangriffe auf das ganze Land gemeldet. Besonders betroffen war die Energieinfrastruktur, schrieb der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko auf Facebook. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurden dabei Marschflugkörper mit Streumunition eingesetzt. Mehrere Atomkraftwerke wurden laut Insidern vom Netz genommen. Millionen Menschen wurden von der Stromversorgung abgeschnitten.
Russland hat nach Angaben ukrainischer Behörden etwa die Hälfte der verfügbaren Erzeugungskapazität des Landes im Laufe des Krieges lahmgelegt, das Verteilernetz beschädigt und die Behörden zu langen Stromabschaltungen gezwungen. Von Stromausfällen im Zuge der Angriffe betroffen sind die Hauptstadt Kiew sowie die südlichen Regionen Odessa und Mykolajiw, die westlichen Regionen Lwiw, Wolhynien und Riwne sowie Dnipropetrowsk und Donezk im Osten. In den westlichen Regionen Lwiw, Riwne und Wolyn hunderte Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt hatten insgesamt mehr als eine Million Menschen am Donnerstag keinen Strom, wie die örtlichen Behörden mitteilten. Teilweise habe es auch Störungen bei der Wasserversorgung gegeben. Einschläge gab es Behördenangaben nach in der Gebietshauptstadt Luzk.
Zudem waren im südlicher gelegenen Gebiet Lwiw (Lemberg) über eine halbe Million Abnehmer ohne Strom. Mindestens einen Einschlag hat es offiziellen Angaben nach im Landkreis Drohobytsch gegeben. Auch im anliegenden Gebiet Iwano-Frankiwsk waren mehr als 300.000 Abnehmer ohne Strom. Der Betreiber des nationalen Stromnetzes DTEK führte nach eigenen Angaben Notstromabschaltungen vor allem in Kiew, Odessa und Dnipro aus. Auch die ukrainische Öl- und Gasfirma Naftogaz berichtete von Angriffen auf ihre Anlagen.
Explosionen wurden aus fast allen Landesteilen gemeldet, unter anderem auch im ostukrainischen Charkiw und dem zentralukrainischen Kropywnyzkyj. In Charkiw seien zwei Männer durch eine russische Drohne getötet worden. Drei weitere wurden bei dem Angriff auf einem Feld beim Dorf Bilyj Kolodjas verletzt, teilte Gebietsgouverneur Oleh Synjehubow bei Telegram mit.
Jeweils einen Verletzten gab es Behördenangaben nach in den Gebieten Winnyzja und Odessa. Schäden an Gebäuden gab es demnach in den westukrainischen Gebieten Iwano-Frankiwsk und Tscherniwzi (Czernowitz). Wegen russischer Raketen und vorheriger Drohnenangriffe galt in der Hauptstadt Kiew in der Nacht bis in die Morgenstunden über neun Stunden am Stück Luftalarm.
Die ukrainische Luftwaffe hat nach eigenen Angaben in der Nacht auf Donnerstag 79 von 91 russischen Raketen abgefangen. Auch 35 der insgesamt 97 von den russischen Streitkräften gestartete Drohnen seien abgeschossen und zerstört worden. 62 der Drohnen habe man aus dem Blickfeld verloren, teilte die ukrainische Luftwaffe mit.
Selenskyj bekräftigt seinen Aufruf an die westlichen Verbündeten, mehr Ausrüstung für die ukrainische Luftabwehr zu liefern. Die rechtzeitige Bereitstellung müsse insbesondere in den kritischen Wintermonaten sichergestellt werden.
Russland und die Ukraine hatten in der vergangenen Woche ihren gegenseitigen Beschuss verstärkt, nachdem Kiew nach einer Freigabe aus Washington vergangene Woche erstmals Ziele innerhalb Russlands mit US-Raketen des Typs ATACMS angegriffen hatte. Der Kreml reagierte darauf mit dem erstmaligen Einsatz einer neuartigen russischen Mittelstreckenrakete.
Russlands Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Großangriff auf die ukrainische Infrastruktur als eine Reaktion auf ukrainische Angriffe auf russische Gebiete mit US-Raketen. Das russische Militär habe dabei in der Nacht mit 90 Raketen ähnlicher Art und 100 Drohnen angegriffen, sagte Putin bei einem Treffen eines Militärbündnisses ehemaliger Sowjetstaaten in der kasachischen Hauptstadt Astana. Siebzehn Ziele seien getroffen worden. Dabei handle es sich um militärische Einrichtungen sowie Anlagen der Rüstungsindustrie. "Wie ich bereits mehrfach sagte, wird es immer eine Reaktion unserer Seite geben", drohte Putin.
Putin drohte konkret mit neuen Einsätzen seiner neuen Mittelstreckenrakete gegen Ziele in der Ukraine, darunter auch Kiew. Derzeit sei Moskau dabei, die Ziele für weitere Schläge auszuwählen. "Das können Militärobjekte, Unternehmen der Rüstungswirtschaft oder Entscheidungszentren in Kiew sein", sagte Putin. Bisher haben russische Angriffe keine Regierungsgebäude in der ukrainischen Hauptstadt getroffen. Kiew ist durch Luftabwehrsysteme stark geschützt. Putin droht allerdings, die neue russische Hyperschallrakete könne nicht abgefangen werden. Er betont zudem, dass Russlands Produktion fortschrittlicher Raketensysteme die der NATO um das Zehnfache übersteige und weiter gesteigert werden solle.
Selenskyj sieht die Drohungen Putins als Störfeuer gegen mögliche Friedensanstrengungen - vor allem die des künftigen US-Präsidenten Donald Trump. Putin strebe kein Ende des Krieges an, sagt Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. "Vielmehr will Putin andere daran hindern, den Krieg zu beenden". "Er kann seine Oreschnik nur noch einsetzen, um die Bemühungen von Präsident Trump zu vereiteln, die sicher auf seine Amtseinführung folgen werden. Putin will die Situation so weit eskalieren lassen, dass die Versuche von Trump scheitern werden, sodass er den Krieg nicht beenden kann."
Im Osten der Ukraine kamen russische Truppen unterdessen weiter voran. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau wurde die Siedlung Nova Illinka in der Nähe der umkämpften Stadt Kurachowe in der Region Donezk eingenommen. Die ukrainische Armee erwähnte Nova Illinka in ihren täglichen Berichten nicht. Analysten und Kriegsblogger berichteten von schnellen russischen Vorstößen in der Ostukraine.