Wie die pensionierte Lehrerin Annemarie Sieß ihre Zeit „ganz ubuntu“ investiert
Seit 2022 gibt es die Lernwerkstatt „ubuntu“. Annemarie Sieß betreut in ihrer Freizeit Menschen mit nichtdeutscher Erstsprache. Egal, ob sie Beratung in Bildungsfragen oder in Fragen der Berufswahl brauchen oder einfach auch nur mehr Mut, Deutsch zu sprechen.
Völs – Seit 2022 gibt es die Lernwerkstatt ubuntu in Völs. Der Raum ist bis unter die Decke voll mit Bücherregalen, einer Couch, vielen Stühle, einem Tisch. An der Wand hängt eine Weltkarte. Der Ort ist eine Wohlfühloase. Abdurrahman Caynak sitzt mit seiner Frau Mihriban Caynak auf der Bank. Das Paar ist mit seinen Kindern aus Diarbakyr geflohen. Die Familie gehört zur Volksgruppe der Kurden. Bis vor einigen Jahren war der Gebrauch der kurdischen Sprache in der Türkei verboten. Mittlerweile haben sie eine Wohnung in Völs gefunden. „Mit einer eigenen Waschmaschine“, freut sich Mihriban. Bis jetzt lebte die Familie im Heim am Glockenareal in Wilten.
Annemarie Sieß unterstützt die Familie, für die Tochter organisierte sie einen Schulplatz in einer Mittelschule, für die Söhne Lehrstellen bei einem Unternehmen in Schwaz und Plätze in der Abendschule. Damit die Kinder dem Schulunterricht folgen können, kamen sie regelmäßig in die Lernwerkstatt ubuntu. Auch Miriban lernte mit den Kindern mit. Mit Erfolg, denn Mihriban, die schon in der Türkei ältere Menschen betreute, konnte vor Kurzem die Ausbildung zur Heimhilfe an der FH Kufstein abschließen.
Hier werden nicht klassisch Vokabel gebüffelt und Konversationen geübt, begonnen wird oft mit Rollenspiele der Waldorfpuppen. „Das ist Ulli“, stellt Sieß ihre Puppe vor. „Ulli ist alles, Bub oder Mädchen. Damit können wir auch mit Kindern gut arbeiten.“
Die Lernwerkstatt ist auch ein Treffpunkt. „Die kleine Tochter einer Frau aus der Türkei war vor ein paar Monaten immer dabei und hat in der Zeit gehäkelt, weil sie in ihrer Volksschule gerade häkeln gelernt hat und uns zeigen wollte, dass sie das nun schon gut kann“, erzählt die 69-jährige Lehrerin: „Dazwischen hat sie sich immer wieder Bücher geholt, von denen sie sich das eine oder andere auch ausgeliehen hat.“ Das Erlernen der deutschen Sprache war für beide leichter, sagt Sieß.
Flüchtlinge auf das Asylverfahren vorbereiten
Auch Hasan Amar lernt bei Annemarie Sieß in der Lernwerkstatt ubuntu Deutsch. Er ist zusammen mit seiner Mutter Hayat Solah aus dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen. Annemarie Sieß war mit ihm beim Bundesamt für Fremdenwesen für seinen Asylantrag. Für Annemarie Sieß sind diese Besuche immer wieder eine Herausforderung.
Kontakt mit zugewanderten Menschen hat Sieß schon seit mehr als 15 Jahren. Nach einer Fridays for Future Demonstration, die sie als Lehrende an der Schule für Sozialbetreuungsberufe besucht hatte, spazierte sie allein durch die Stadt, erinnert sie sich. Bei der Neueröffnung seines Geschäftes lernte sie den inzwischen österreichischen Staatsbürger Mohammad Said Chikh Jabr kennengelernt. „Sein Webstuhl war die Dekoration des Schaufensters neben der Wirtschaftskammer in der Wilhelm-Greil-Straße“, erinnert sich Sieß zurück.
Dass Annemarie Sieß Menschen wirklich mag, merkt man. „Ich investiere meine Zeit ohne Kosten – ganz nach dem Prinzip Ubuntu – es ist gratis, aber nicht umsonst“, sagt sie. „Die Menschen kommen und bringen vielleicht Kuchen mit, weil sie sehr gerne backen.“ Oder sie helfen der 69-Jährigen, weil sie ein Auto für ihre Firma fahren, das sie auch privat benützen dürfen. Oder sie helfen jemanden anderen aus der Lernwerkstatt, weil der Begleitung in Innsbruck braucht und sich in der Stadt noch nicht so gut auskennt. „So helfen wir uns gegenseitig – ohne dass Geld benötigt wird.“
Notwendig ist nur eine Mitgliedschaft
Einzige Notwendigkeit, die Unterstützung von Annemarie Sieß zu bekommen, ist eine Mitgliedschaft im Verein „Lernwerkstatt Ubuntu e.V.". Der Grund ist eine Versicherung. Damit auch Ausflüge in den nahen Wald oder eventuell ein gemeinsamer Besuch des Schwimmbades möglich sind.
Die Mitgliedschaft kostet für Familien 50 Euro pro Jahr, für Erwachsene entsprechend weniger und Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren besuchen das Ubuntu kostenfrei. „Wir können uns das leisten, weil es eine Gruppe von Kolleg:innen aus meinen früheren Schulen und aus meinem Freundeskreis gibt, die als „Ehrenmitglieder“ in unterschiedlicher Weise Unterstützung geben.“