Erinnern als Aufgabe: Schriftsteller Martin Pollack gestorben
In seinen Büchern verknüpfte Martin Pollack die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit persönlichen Schicksalen. Nun ist der Autor und Journalist 80-jährig nach langer, schwerer Krankheit gestorben.
Wien – Der Schriftsteller Martin Pollack ist am Freitag im Alter von 80 Jahren gestorben. Pollack, geboren 1944 in Bad Hall, gehörte zu den bedeutendsten, politischen Autoren Österreichs. Er war zuletzt schwer krank – und trotzdem erstaunlich produktiv. Er habe sein Schicksal angenommen, „Resignation und Verzweiflung gehören nicht zu mir. Mich interessiert die Krankheit auch nicht“, sagte anlässlich eines Interviews zu seinem 80. Geburtstag im Mai 2024.
Noch im Juni 2024 stand er auf der Bühne
Noch im Juni vergangenen Jahres hielt Martin Pollack die „Krzysztof Michalski Memorial Lecture“ am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM), die er mit „The Long Shadow of a Sinister Past. A Never-Ending Story“ überschrieb. Er ging darin der Frage nach, ob der Umstand, dass das offizielle Österreich seine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus lange leugnete, das Land anfälliger für die Verlockungen des Rechtspopulismus gemacht hat.
Das war eines der Themen, die Martin Pollacks Leben bestimmten. „Ich komme aus einer hundertprozentigen Nazifamilie. Das steckt in den Leuten drinnen – in Österreich offenbar besonders stark. Und bei jeder Gelegenheit kommt das wieder heraus.“
Über seine Erkenntnis, dass sein Vater, der 1947 beim Versuch eines Grenzübertritts nach Italien unter ungeklärten Umständen erschossen wurde, bei den nationalsozialistischen Verbrechen als hochrangiger Gestapo-Beamter und SS-Offizier Mittäter war, hat er ein so beeindruckendes wie bedrückendes Buch geschrieben. Von der Erfahrung, dass die geliebte Großmutter, die die wesentliche Bezugsperson seiner Kindheit war, nie etwas aus der Geschichte gelernt hat, vermochte er in einer Offenheit und Direktheit zu erzählen, dass einem mitunter die Luft wegblieb.
Dass er nach einer Ausbildung als Tischler in Wien und Warschau Slawistik und osteuropäische Geschichte studierte, sei eine Art Trotzreaktion gewesen, ein Versuch, der Großmutter „eins auszuwischen“, sagte er einmal.
Spiegel-Korrespondent in Polen
Einen Namen machte sich Martin Pollack als Journalist. Er war Redakteur der Zeitschrift Tagebuch. Später berichtete er für den Spiegel aus Warschau und Wien. Sein erster Auftrag für das deutsche Magazin war ein Besuch bei Bundespräsident Kurt Waldheim.
In der weltweit diskutierten Affäre um dessen SS-Vergangenheit hatte Der Spiegel ein Telegramm publiziert, das sich nicht als Beweis, sondern als Fälschung herausstellte. „Mir und meiner Vorgängerin Inge Santner oblag es, zu Waldheim zu pilgern und uns dafür zu entschuldigen. Der Termin war hochnotpeinlich. Der Spiegel war damals Partei – was man im Journalismus immer vermeiden sollte.“ Bis 1998 leitete er das Büro des Spiegels in Warschau. Daneben übersetzte er aus dem Polnischen.
Auch als Schriftsteller lagen seinen Erzählungen oft akribische Recherchen zugrunde. Sein erstes Buch „Nach Galizien“, ein kulturgeschichtlich-literarischer Reiseführer, erschien 1984.
Erfolge mit historischen Recherchen
Durchschlagende Erfolge erzielte er mit „Anklage Vatermord“ (2002), „Der Tote im Bunker“ (2004) und „Kaiser von Amerika“ (2010), in denen er die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts beleuchtete, die er stets mit der eigenen NS-belasteten Familiengeschichte auf packende Weise zu verknüpfen verstand. „Als Mahner gegen das Vergessen setzte er neue Maßstäbe in der Erinnerungskultur“, heißt es in einem am Freitag von Pollacks Verlag Residenz veröffentlichten Nachruf.
Im Mai dieses Jahres wird dort „Zeiten der Scham“, eine Sammlung von Reportagen und Essays, erscheinen. Es werde „das eindrückliche Vermächtnis eines im ganzen deutschsprachigen Raum sowie auch in Polen gefeierten Schriftstellers sein: eines großen Erinnerungsarbeiters von europäischem Format und eines stetigen Kämpfers für Demokratie und offene Gesellschaft“, kündigt der Verlag an.
Martin Pollacks Bücher wurden in insgesamt 14 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. 2011 erhielt der den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 2018 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. (APA, TT)