Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: „So hat es damals auch angefangen“
Vor 80 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Im Gedenken zum Jahrestag schwingen auch Parallelen zur heutigen Zeit mit.
Auschwitz – Margot Friedländer ist eine der Letzten, die den Holocaust überlebt haben und noch davon berichten können. „Für mich ist es, als ob es gestern wäre“, sagt die 103-Jährige, wenn man sie nach der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz vor 80 Jahren fragt.
Sie selbst war damals Gefangene im KZ Theresienstadt. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet. „Ich habe meine ganze Familie verloren“, sagt Friedländer. Sie hat ihre Geschichte oft erzählt, seit sie mit fast 90 Jahren aus dem Exil in den USA nach Berlin zurückkehrte. Sie will weiter erzählen. „Weil ich versuche, euch klarzumachen, was gewesen ist. Dass wir das nicht mehr ändern können. Dass es aber für euch ist. Dass es nicht wieder passieren darf. Das ist meine Mission.“
1,1 Millionen Ermordete
80 Jahre ist es her, dass sowjetische Soldaten das deutsche Vernichtungslager Auschwitz im besetzten Polen erreichten. Sie fanden etwa 7000 Überlebende. Etwa 1,1 Millionen Menschen wurden dort getötet – ermordet in Gaskammern oder erschossen oder zugrunde gerichtet durch Arbeit, Hunger, Krankheit. Unter den Ermordeten waren eine Million Juden.
Zum Jahrtag reisen am Montag Vertreter zahlreicher Staaten und Organisationen sowie einige der letzten Überlebenden an. Die Gedenkveranstaltung solle einen „deutlichen Gegenakzent“ zu aktuellen Entwicklungen setzen, sagt der Auschwitz-Seelsorger Manfred Deselaers. Er meint den zunehmenden Antisemitismus und die allgemeine Tendenz zur Abgrenzung.
Obwohl die Rote Armee das Lager befreit hat, wird Russland diesmal nicht vertreten sein. Das ist aus Sicht von Deselaers „tragisch, aber politisch wohl notwendig“. Bis vor dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine seien russische Repräsentanten dabei gewesen: „Vielleicht wird es einmal wieder möglich sein.“
Die sowjetischen Soldaten, die über das Ziel ihres Vorstoßes im Winter 1945 nicht informiert waren, waren schockiert von dem Anblick der ausgemergelten Gestalten. Viele lagen im Sterben, zahlreiche starben trotz Hilfe noch in den folgenden Tagen. Die Befreier konnten angesichts der Hunderttausenden Kleider und der Asche der Ermordeten nur erahnen, was dort geschehen war.
Österreicher unter Tätern
Der Komplex Auschwitz-Birkenau war das größte nationalsozialistische Vernichtungslager; zu Kriegsende umfasste er über 40 Quadratkilometer und 48 Nebenlager. Unter den Todesopfern waren auch etwa 11.000 Menschen aus Österreich. Österreicher waren aber auch auf der Täterseite vertreten – von der SS-Lagerführerin Maria Mandl bis zu Wachleuten.
Die Monstrosität des Verbrechens lässt sich allein durch Zahlen kaum erfassen. „Verstehen können Nachgeborene vielleicht nur einzelne Schicksale, wie das von Friedländer“, sagt Andrea Löw, Leiterin des Münchner Zentrums für Holocaust-Studien. „Das waren Menschen wie Sie und ich, die aus ihrem Leben gerissen wurden. Diese Geschichten müssen wir erzählen.“ Wie wichtig das ist, zeigt eine Umfrage im Auftrag der Jewish Claims Conference unter jungen Erwachsenen (18 bis 29 Jahre alt).
Große Wissenslücken
In Deutschland gaben zwölf Prozent von ihnen an, noch nie etwas vom Holocaust gehört zu haben, in Österreich waren es 14 Prozent, in Frankreich 46 Prozent. Viel mehr Befragte wussten nicht, dass bis zu sechs Millionen Juden ermordet wurden. In fast allen erfassten Ländern sagte eine große Mehrheit (Österreich: 62 Prozent), so etwas wie der Holocaust könnte wieder passieren.
Holocaust-Forscherin Löw hält es nicht für zielführend, heutige Politiker mit Nazi-Führer Adolf Hitler zu vergleichen. „Aber zu schauen, wo gibt es Parallelen oder Strukturen wie damals (...) – das ist legitim und wichtig.“ Als Beispiele nennt sie die Forderungen nach „Remigration“ oder nach Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für bestimmte Gruppen. „Da gibt es deutliche Parallelen zu den 1930er Jahren.“
Die sieht auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer so. „Ich verstehe nicht sehr viel von Politik“, meint sie. „Aber ich sage immer: So hat es damals auch angefangen. Seid vorsichtig. Macht es nicht. Respektiert Menschen, das ist doch das Wesentliche.“ (TT, dpa, APA)
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