Dem Echo der Seele auf der Spure: Zum Tod der Komponisten Sofia Gubaidulina
Die tatarisch-russische Komponistin prägte die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. 2017 war sie Ehrengast der Schwazer Klangspuren. Nun ist sie 93-jährig in Hamburg gestorben.
Hamburg, Schwaz – Die Welt der Musik hat eine ihrer eigenwilligsten und kompromisslosesten Stimmen verloren. Sofia Gubaidulina, eine der bedeutendsten Komponistinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, ist tot. Sie starb am Donnerstag im Alter von 93 Jahren nahe Hamburg.
Die fliegende Einsiedlerin
Gubaidulinas Musik war sperrig, radikal. „Mich hat immer interessiert, was in den tiefsten Schichten unserer Seele verborgen liegt. Das wollte ich ans Tageslicht bringen“, sagte sie einmal in einem TT-Interview. Die namhaftesten Solist:innen und Dirigent:innen haben ihre Werke aufgeführt: Gidon Kremer, Mstislaw Rostropowitsch, Anne-Sophie Mutter, Kurt Masur, Christian Thielemann, Simon Rattle. Rattle nannte Gubaidulina eine „fliegenden Einsiedler“: „Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde, bringt uns Licht und zieht sich dann wieder auf ihre Umlaufbahn zurück.“
Sofia Gubaidulina: Der Zorn Gottes
Klangsprache entzieht sich einfacher Erklärungen. Ihre Kompositionen oszillieren zwischen streng strukturierten Intervallkonstellationen und fast improvisatorisch anmutenden, poetischen Klangflächen. Rhythmische Prozesse sind oft das treibende Element, doch immer steht dahinter die Suche nach dem, was jenseits des bloß Hörbaren liegt. „Das wichtigste Ziel eines Kunstwerkes ist meiner Ansicht nach die Verwandlung der Zeit“, sagte sie einmal.
Die „Johannes-Passion“ und ihre „Fortsetzung“
Für Gubaidulina war der russisch-orthodoxe Glaube kein Rückzugsort, sondern eine Quelle der Erkundung, die sich in ihre Musik einschlich und sie formte. Religiöse Werke wie „Stunde der Seele“, „De profundis“ oder „Sieben Worte“ stehen dabei gleichberechtigt neben jenen Kompositionen, in denen sich das Spirituelle eher unterschwellig manifestiert.
Ihre monumentale „Johannes-Passion“, komponiert zum 250. Geburtstag Johann Sebastian Bachs und 2000 in Stuttgart uraufgeführt, gehört zu den eindrucksvollsten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem christlichen Glauben in der Gegenwartsmusik. Dass sie mit „Johannes-Ostern“ später eine Fortsetzung schrieb, war für sie folgerichtig: Der Leidensweg Jesu ergibt ohne die Auferstehung keinen Sinn.
Vom „Irrweg“ zum Weltruhm
Gubaidulinas Biografie ist eine Geschichte der Kontraste – und eine, die sich nicht ohne ihre Heimat, die Sowjetunion, erzählen lässt. 1931 in Tschistopol an der Wolga geboren, aufgewachsen in Kasan, studierte sie in Moskau, wo sie früh in Konflikt mit den offiziellen Kulturvorgaben geriet. 1959 wurde ihr von der Prüfungskommission bescheinigt, sie verfolge einen „Irrweg“ – ein Urteil, das für viele das Ende ihrer Karriere bedeutet hätte.
Sofia Gubaidulina: Glorious Percussion
Doch Dmitri Schostakowitsch riet ihr, diesen Weg unbeirrt weiterzugehen. Sie tat es.
Ihre avantgardistische Klangsprache blieb im sowjetischen Kulturbetrieb lange unerwünscht. In den 1970er Jahren gründete sie mit Viktor Suslin und Vyacheslav Artyomov die Improvisationsgruppe Astreja. Die offizielle Reaktion darauf? Ihre Musik sei „Kakophonie und eine Krankheit“. Sie verdiente ihr Geld mit Filmmusik, während ihre „ernsten“ Werke kaum aufgeführt wurden. Doch im Westen hatte man sie längst entdeckt.
Der späte Durchbruch
1981 dann der Wendepunkt: Gidon Kremer führte ihr Violinkonzert „Offertorium“ auf – ein Werk, das ihren internationalen Durchbruch markierte. Die Komponistin ging nach Deutschland. Seit 1992 wohnte sie in einem kleinen Dorf nahe Hamburg, wo sie sich mit ihrer Musik immer weiter in die Tiefe bewegte.
Composer in Residence bei den Klangspuren
Österreich war für Gubaidulina eine wichtige Bühne. Bei den Salzburger Festspielen, Wien Modern, den Wiener Festwochen oder den Osterfestspielen Salzburg wurde sie regelmäßig aufgeführt.
2017 war sie Composer in Residence bei den Klangspuren Schwaz. Dort sprach sie über ihre Faszination für Instrumente wie das Bajan oder das Schlagzeug, die sie als Persönlichkeiten begriff, als Stimmen mit einer eigenen Seele. Bei der österreichischen Erstaufführung ihres Werks „Glorious Percussion“ arbeitete sie intensiv mit den Musikern. Ein geplantes Pressegespräch ließ sie ausfallen. Die Proben waren wichtiger. Der Blick hinter die Kulissen war unbezahlbar.
So war sie. Keine Inszenierung. Keine Zugeständnisse an den Markt. Keine Eitelkeiten.
Ihr Name steht auf den wichtigsten Auszeichnungen der Musikwelt – dem Praemium Imperiale, dem Europäischen Kulturpreis, dem Goldenen Löwen der Biennale.