Ein wahrhaftiger Erzähler: Der Schweizer Autor Peter Bichsel ist tot
Eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur ist verstummt. Peter Bichsel, der mit Milchmann- und Kindergeschichten berühmt wurde, starb am Samstag im Alter von 89 Jahren in Solothurn.
Peter Bichsel galt als eine der bedeutendsten Stimmen der Schweizer Literatur mit internationaler Strahlkraft. Berühmtheit erlangte er mit seinem Erzählband „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), mit dem er sich auf Anhieb auch im Ausland große Anerkennung verschaffte.
Am vergangenen Samstag verstarb der Peter Bichsel im Alter von 89 Jahren in Solothurn. Das gab der Suhrkamp Verlag am Montag bekannt.
Ein Erzähler von unverwechselbarer Leichtigkeit
Bichsels legendäre Milchmann- und Kindergeschichten sind bis heute feste Schullektüre in der Schweiz. Über Jahrzehnte hinweg erreichten seine Kolumnen eine breite Leserschaft. In vielen Interviews gewährte er Einblicke in sein Denken und Fühlen. Seine Popularität gründete sich nicht nur auf seine erzählerische Kunst, sondern auch auf die Art und Weise, wie er argumentierte.
Peter Bichsel war ein echter Erzähler – seine Geschichten und Gedanken trug er vor, als entstünden sie im Moment des Sprechens. Hochmut oder belehrender Ton waren ihm fremd. Dabei täuschte die scheinbare Einfachheit seiner Sprache leicht darüber hinweg, dass in seinen Erzählungen oft ein feiner Stachel der Irritation oder des Widerspruchs steckte.
Ein Lehrer fürs Leben
Bichsel wurde 1935 in Luzern geboren, wuchs in Olten auf und besuchte das Lehrerseminar in Solothurn. Anschließend arbeitete er von 1955 bis 1968 als Primarlehrer in der Region Solothurn – aus tiefer Überzeugung, wie er einmal schrieb: "Ich wollte der Menschheit etwas beibringen, ich wollte die Menschheit verändern."
Wie entscheidend eine Lehrperson für das Leben eines Kindes sein kann, erfuhr er am eigenen Leib. Er verdankte seine Erweckung zum Schriftsteller seinem Lehrer Kurt Hasler, wie er immer wieder betonte. Ohne dessen aufmerksamen Blick, der „unter dem Schutt von dreißig Rechtschreibfehlern“ sein Talent erkannte, wäre er wohl nicht Schriftsteller geworden. Diese prägende Erfahrung ließ ihn zeitlebens über die Rolle des Lehrers und über Bildungsgerechtigkeit nachdenken.
Der literarische Durchbruch
Mitten in seine Zeit als Lehrer fiel 1964 die Veröffentlichung von „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“. Das Buch schlug sofort hohe Wellen. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erkannte darin das Werk eines außergewöhnlich begabten Autors und verkündete mit begeisterter Stimme die Entdeckung eines neuen literarischen Talents.
Damit war der Grundstein für ein Werk gelegt, das – so Reich-Ranicki – sein „eigenartiges Maß in sich“ hat. Die „Milchmann“-Miniaturen legten den Stil fest, der in all seinen Schriften wiederkehrt: eine meisterhaft reduzierte, vertrackt einfache Sprache. Nichts klingt so unverwechselbar leicht wie eine Geschichte aus Bichsels Feder.
Oft in Tirol zu Gast
Bichsel war auch über die Grenzen der Schweiz hinaus geschätzt. So war er zweimal Gast beim Tiroler Sprachsalz-Festival. Zudem trat er mehrfach in Innsbruck auf, etwa 2002 bei der Literaturreihe "CHinA" im Bierstindl.
Peter Bichsel wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Große Schillerpreis (2012), der Solothurner Literaturpreis (2011) und der Gottfried-Keller-Preis (1999). Die Theologische Fakultät der Universität Zürich verlieh ihm 2004 die Ehrendoktorwürde.
Die Triebfeder seines Erzählens war stets der Konjunktiv:„Was wäre, wenn…?“ Bichsels Geschichten klingen verführerisch leicht. Man liest sie und denkt: Genau so könnte es sein – oder auch nicht. Zwischen den Zeilen spürt man stets, dass das Wahre nur existiert, wenn das wahrhaftig Mögliche verteidigt wird.
Doch man sollte sich nicht täuschen lassen. So schlicht seine Sätze wirken, so viel Raffinesse und wohlbedachte Klarheit stecken in ihnen. Ihr Geheimnis liegt in den subtilen Brüchen mit sprachlichen und erzählerischen Konventionen. Bichsel setzte keine Pointen und verkündete keine Botschaft. Lieber ließ er eine Geschichte mitten im Erzählen innehalten und überließ den weiteren Verlauf der Fantasie der Leserinnen und Leser. So wollte er, wie er einmal sagte,„die Möglichkeit geben, weiterzudenken, weiterzuarbeiten, mitzuarbeiten an diesen Geschichten.“
Ein Kolumnen-Gebirge
Bichsels Werk umfasst zahlreiche Erzählbände, darunter „Die Jahreszeiten“ (1967) – sein vielleicht liebstes Buch –, „Zur Stadt Paris“ (1993) und „Cherubim Hammer und Cherubim Hammer“ (1999). Zudem verfasste er Essays und Reden, etwa in „Des Schweizers Schweiz“ (1969) oder „Schulmeistereien“ (1985).
Doch sein wahres Opus magnum liegt in seinen zahllosen Kolumnen. Über vierzig Jahre hinweg entstand ein Geschichtengebirge, das seinesgleichen sucht. Hier verband Bichsel die Kunst des Erzählens mit politischem Einspruch und poetischer Präzision. Es ist kein Zufall, dass er sich besonders dieser Form verschrieb – einer Textgattung, die eher journalistischen denn literarischen Status genießt. Doch genau in diesem Grenzbereich fand er seinen unverwechselbaren Ton. Seine Kolumnen zeichneten sich durch einen erzählerischen Gestus und eine behutsam abwägende Art aus, die den Leser ernst nahm – selbst dann, wenn er ihm mit Leidenschaft widersprach.
Ein einzigartiges literarisches Erbe
In den letzten Jahren hatte sich Peter Bichsel vom Schreiben zurückgezogen. Er bezeichnete sich nie als leidenschaftlichen Schriftsteller – vielmehr war ihm das Erzählen wichtig. Er hinterlässt eine Fülle von Büchern und Texten, deren Lebensklugheit, wie der Autor Ralf Rothmann einmal schrieb, „immer wieder Mut macht zur eigenen Geschichte und aus der Sprachlosigkeit heraushilft.“
Genau das machte Peter Bichsel so einzigartig – und so populär.
Am Samstag schlief er in einem Pflegeheim in Zuchwil friedlich ein. Seinen 90. Geburtstag am 24. März hätte er gerne noch erlebt – nicht zuletzt, weil an diesem Tag ein ihm gewidmetes Projekt eröffnet werden sollte: das Büro Bichsel. Mit diesem dreiteiligen Vorhaben – einem mobilen Museum, einer Webseite und einem Lese- und Begegnungsraum in der Solothurner Altstadt – soll sein Erbe lebendig gehalten werden. (TT, APA, sda)