Kalte Dusche für Friedrich Merz: Erst im zweiten Anlauf zum deutschen Kanzler gewählt
Auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Bruch der Ampelkoalition hat Deutschland am Dienstag eine neue Regierung bekommen. Allerdings erst nach einer Blamage bei der Kanzlerwahl.
Berlin – Als Olaf Scholz (SPD) Dienstagvormittag den Plenarsaal des Bundestags verlässt, ist auf seiner sonst so stoischen Miene eine Regung zu sehen. Ist es die Reaktion auf die Erkenntnis, dass er jetzt wider Erwarten doch noch länger geschäftsführender Bundeskanzler bleibt? Denn Friedrich Merz ist gerade bei der Kanzlerwahl gescheitert.
Die unvorhergesehene Verlängerung der Amtszeit zieht sich dann aber doch nicht Tage, wie eigentlich im Grundgesetz vorgesehen. Die Fraktionen erklären sich am Nachmittag bereit, die Geschäftsordnung zu ändern, um einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag durchführen zu können.
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Im zweiten Anlauf erhält Merz 325 Ja-Stimmen und damit neun mehr als die nötige Mehrheit von 316. „Ich bedanke mich für das Vertrauen, und ich nehme die Wahl an“, sagt er. Am Abend wurden dann noch die 17 Ministerinnen und Minister ernannt und vereidigt. Damit hat Deutschland mit sieben Stunden Verspätung eine schwarz-rote Regierung bekommen.
Der Tag wird für Merz und Deutschland dennoch in schlechter Erinnerung bleiben. Erstmals in der Geschichte hat ein designierter Bundeskanzler keine Regierungsmehrheit bei seiner Wahl erhalten. Seine Frau Charlotte, seine beiden Töchter und Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verfolgen von der Tribüne, wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) wenige Minuten nach 10 Uhr das Scheitern im ersten Wahlgang verkündet.
Statt der nötigen Mehrheit von 316 Stimmen hat der 69-jährige Nordrhein-Westfalen nur 310 erhalten, sechs zu wenig. Angesichts der 328 Abgeordneten von CDU/CSU und SPD bedeutet dies, dass 18 Mandatare der schwarz-roten Koalition gegen Merz gestimmt haben. Merz zeigt bei der Verkündung des Ergebnisses kaum eine Regung: versteinerte Gesichtszüge, der Kiefer fest, der Blick geradeaus.
Wer für das Scheitern von Merz im ersten Anlauf verantwortlich ist, ist unklar. Die Wahl ist geheim. Union und SPD hatten vor der Sitzung angegeben, dass ihre Abgeordneten alle anwesend seien. Vielleicht haben sogar mehr als 18 Koalitionäre nicht für Merz gestimmt. Denn theoretisch könnten auch Oppositionspolitiker ihre Stimme für den CDU-Chef abgegeben haben.
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Nein auch aus der Union?
An der SPD habe es nicht gelegen, versicherten die Genossen sofort. Der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil erklärte Fraktionskreisen zufolge, er habe „nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig gestanden hat“. Das deutliche Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag sei ein Auftrag an die Fraktion. „Und sie erfüllt diesen. Auf uns ist Verlass“, betonte der designierte Vizekanzler demnach.
Vor dem zweiten Wahlgang kamen mahnende Worte der Union. „Ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, schaut auf diesen zweiten Wahlgang“, sagte Unions-Fraktionschef Jens Spahn (CDU) in Berlin. „Ich appelliere an alle, sich dieser besonderen Verantwortung bewusst zu sein.“
CSU-Chef Markus Söder hatte schon zuvor die Abgeordneten zur Vernunft gerufen. Jetzt sei der falsche Zeitpunkt für Spielchen, Denkzettel oder die Begleichung alter Rechnungen.
Doch Merz hatte auch in den Unions-Reihen einen teils heftig zu spürenden Frust ausgelöst, als er nur Tage nach der Bundestagswahl eine Aufweichung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben anstieß. Und das, obwohl seine Partei im Bundestagswahlkampf den Eindruck erweckt hatte, fest zur Schuldenbremse zu stehen.
Sinkende Beliebtheitswerte
Seitdem sinken Merz‘ Beliebtheitswerte in Umfragen, Wähler fühlen sich betrogen – und auch in der Fraktion zeigten sich manche angefasst. Merz selbst räumte öffentlich ein: „Ich weiß, dass ich jetzt einen sehr hohen Kredit in Anspruch genommen habe, auch was meine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft.“ Diesen Kredit wollte er als Kanzler zurückzahlen. (dpa, sta)
Neue deutsche Regierung
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Kommentar
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CDU, CSU und SPD