Israel strebt komplette Kontrolle des Gazastreifens an
Israels Premier kündigt an, sein Land wolle den gesamten Gazastreifen unter seine Kontrolle bringen. Bereits seit März lässt Israel keine Hilfslieferungen mehr in das Palästinensergebiet, laut UNO droht mehr als zwei Millionen Menschen der Hungertod. Nun sollen wieder Hilfsgüter zugelassen werden.
Tel Aviv – Israel strebt nach den Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die vollständige Kontrolle des Gazastreifens an. Damit solle verhindert werden, dass die militant-islamistische Palästinenserorganisation Hamas Hilfsgüter plündere, sagt Netanjahu am Montag. Weitere Details dazu nannte er zunächst nicht. Unterdessen wurden bei neuen israelischen Luftangriffen im Gazastreifen nach palästinensischen Angaben mehr als 20 Menschen getötet.
„Wir werden die Kontrolle über alle Gebiete des Gazastreifens übernehmen“, kündigte Premier Netanjahu in einer auf Telegram veröffentlichten Videoansprache an. Nach einer Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts Anfang Mai hatte es aus Regierungskreisen bereits geheißen, dass Pläne für eine Einnahme des Gazastreifens und die fortwährende Kontrolle der Gebiete gebilligt worden seien. Das Vorhaben sieht nach Angaben aus Regierungskreisen auch vor, die palästinensische Bevölkerung vom Norden in den Süden des Küstenstreifens umzusiedeln.
Netanjahu ließ in einer darauffolgenden Ansprache zunächst offen, ob das gesamte Küstengebiet oder nur Teile erobert werden sollen. Die Andeutung einer dauerhaften Besetzung rief international massive Kritik hervor.
Netanjahu: Hilfslieferungen zur Sicherung der Unterstützung
Ziel ist es laut israelischer Regierung, die Terrororganisation Hamas zu besiegen und die Freilassung der von islamistischen Extremisten festgehaltenen Geiseln zu erreichen. Rechtsextreme Politiker streben aber auch eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens an, aus dem Israel sich vor 20 Jahren zurückgezogen hat.
In seiner Videoansprache betonte Netanjahu wohl vor allem angesichts der Kritik von Hardlinern seiner rechtsreligiösen Regierungskoalition, dass die Entscheidung, wieder Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen, getroffen worden sei, da dies zur Sicherung der internationalen Unterstützung wichtig sei. Um einen Sieg über die Hamas zu erringen, dürfe es keine Hungersnot im Gazastreifen geben, sagte er weiter. Er machte allerdings keine Angaben dazu, wann die am Sonntag angekündigte Wiederaufnahme der Hilfslieferungen genau anlaufen werde.
Neue Angriffe, wieder Tote
Bei den neuen israelischen Luftangriffen im Gazastreifen sind nach palästinensischen Angaben am Montag mindestens 22 Menschen getötet worden. Bei Angriffen auf die südliche Stadt Khan Younis und Umgebung habe es zwölf Todesopfer gegeben, sagte Zivilschutz-Sprecher Mahmoud Bassal am Montag. Bei einem Angriff nahe einem Marktes in der Stadt Jabalia im Norden fünf. Fünf weitere Menschen wurden Bassal zufolge in Nuseirat und in der Stadt Gaza bei Angriffen auf ihre Zelte getötet.
Palästinensischen Berichten zufolge war in Khan Younis auch eine Spezialeinheit der israelischen Armee im Einsatz. Sie habe einen Kommandanten der mit der militanten Hamas-Organisation verbündeten Al-Nasser-Salah-al-Din-Brigaden gezielt getötet, die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA. Augenzeugen zufolge sollen die israelischen Kräfte in ziviler Kleidung im Einsatz gewesen sein. Augenzeugen berichteten der Deutschen Presse-Agentur von rund 30 heftigen Luftangriffen auf Khan Younis. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig verifizieren. Israels Militär teilte auf Anfrage mit, die Berichte zu prüfen.
Später rief die israelische Armee hat Anrainer von Khan Younis auf, von dort zu fliehen. Anrainer m Gebiet der zweitgrößten Stadt des Gazastreifens sowie benachbarter Orte sollten sich wegen eines bevorstehenden „beispiellosen Angriffs“ umgehend nach Al-Mawasi begeben, hieß es in einem in arabischer Sprache veröffentlichten Aufruf. Das israelische Militär werde in dem Gebiet einen Einsatz beginnen, um gegen Terrororganisationen vorzugehen, hieß es weiter. Die Gegend sei nun ein „gefährliches Kampfgebiet“.
Seit Sonntag wieder umfassende Angriffe auch am Boden
Israel hat am Sonntag den Beginn von „umfassenden Bodeneinsätzen“ im Gazastreifen verkündet. Die israelische Armee erklärte am Montag, sie sei in dem gesamten Küstenstreifen im Einsatz. Israel hatte seine massiven Angriffe im Gazastreifen Mitte März nach einer zweimonatigen Waffenruhe wieder aufgenommen. Seit Anfang März blockierte Israel zudem die humanitären Hilfslieferungen für den Gazastreifen.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte am Sonntag nach internationaler Kritik aber, dass Israel wieder Hilfslieferungen zulasse. Die Einfuhr einer „Grundmenge an Lebensmitteln“ solle sicherzustellen, „dass sich keine Hungersnot im Gazastreifen entwickelt“, hieß es in einer Mitteilung von Netanjahus Büro. Die Hamas solle daran gehindert werden, „diese humanitäre Hilfe an sich zu reißen.“
Ziel der Blockade war es nach Angaben Israels, Zugeständnisse der Hamas zu erzwingen, die weiterhin Dutzende israelische Geiseln in ihrer Gewalt hat. Hilfsorganisationen warnten, die 2,4 Millionen Bewohner des Palästinensergebiets stünden vor einer Hungerkatastrophe.
Verhandlungen festgefahren
Kurz bevor Israel die Erlaubnis für neue Hilfslieferungen am Sonntag ankündigt, war aus Verhandlungskreisen verlautet, dass bei einer neuen Runde indirekter Gespräche zwischen Israel und der Hamas in Katar keine Fortschritte erzielt worden seien. Netanjahu sagte, die Beratungen hätten sich um eine Waffenruhe und ein Geiselabkommen sowie einen Vorschlag zur Beendigung des Krieges durch die Verbannung von Hamas-Kämpfern und die Entmilitarisierung des Gazastreifens gedreht - Bedingungen, die die Hamas zuvor abgelehnt hatte.
Die Hamas machte Israel für die mangelnden Fortschritte bei den Gesprächen in Doha verantwortlich. Zudem gefährde die Militäroffensive das Leben der Geiseln. Die neue Offensive sei „ein Todesurteil für die verbliebenen israelischen Gefangenen“, sagte der ranghohe Hamas-Vertreter Sami Abu Zuhri zu Reuters. „Die Fortsetzung dieser Einsätze bedeutet, dass Netanjahu darauf abzielt, die Geiseln loszuwerden, nicht sie zurückzuholen“, sagte er. Die Hamas hatte schon wiederholt erklärt, mehrere Geiseln seien bei israelischen Luftangriffen getötet worden. Israel wirft der Islamisten-Gruppe dagegen vor, Geiseln in ihrer Gewalt hingerichtet zu haben.
Seit mehr als eineinhalb Jahren Krieg
Der Gazakrieg war durch den Großangriff der Hamas und mit ihr verbündeter Kämpfer auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst worden, bei dem nach israelischen Angaben rund 1.200 Menschen getötet und 251 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden waren. Als Reaktion auf den Hamas-Überfall geht Israel seither massiv militärisch im Gazastreifen vor. Dabei wurden nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die nicht unabhängig überprüft werden können, bisher mehr als 53.300 Menschen getötet. (APA/AFP/dpa/Reuters, TT.com)