Ex-Schüler eröffnete Feuer

„Zwei Schulfreunde von mir sind tot“: Schock und Trauer nach Amoklauf in Graz

220 MitarbeiterInnen des Roten Kreuzes taten alles Menschenmögliche. Sie betreuten auch 300 SchülerInnen sowie 200 Eltern und Angehörige.
© APA/Scheriau

Erschütternde Szenen am Dienstag in Graz: Ein Stadtteil wird zum Katastrophengebiet, Eltern wissen nicht, ob ihre Kinder noch leben. Ein Amokläufer hat in einer Schule zehn Menschen und danach sich selbst getötet.

Von Wilfried Rombold (Kleine Zeitung Graz)

Graz – Menschen mit kreidebleichen Gesichtern. Einsatzautos, die im Sekundentakt mit Folgetonhorn vorbeirasen, kreisende Hubschrauber. Schwer bewaffnete Polizistinnen und Polizisten und ganz viel Bestürzung. Die friedliche Wohngegend rund um das Bundesoberstufenrealgymnasium/BORG Dreierschützengasse in Graz-Lend verändert sich am Dienstagvormittag urplötzlich zum Katastrophengebiet:

Zehn Menschen mussten durch die Schüsse eines Amokläufers ihr Leben lassen, zwölf wurden teils schwer verletzt. Der 21-Jährige hat anschließend Suizid begangen. Um das abgesperrte Schulgelände versammelten sich rasch kleine Menschentrauben, trauerten, tauschten sich aus und leisteten sich gegenseitig Beistand.

Die Cobra sicherte die Umgebung des Oberstufenrealgymnasiums stundenlang ab.
© Kleine Zeitung

Handy-Videos kursieren

Eine Gruppe von Schülern, die an diesem Tag nicht in der Schule war, zeigt Handy-Videos, die in den diversen Chatgruppen kursieren. Darauf zu sehen sind schwer bewaffnete Polizisten, rennende und schreiende Schülerinnen und Schüler, aber auch Rettungskräfte, die behutsam weiße Tücher über die toten Körper legen. „Das ist nicht zu fassen, dass sich das hier ereignet hat“, sagt ein Jugendlicher, der um die Ecke wohnt. Einen der Getöteten erkannte er auf den Videos.

Einige Meter weiter auf dem Hofer-Parkplatz diskutieren junge Männer mit einer Frau und einem Mann. Sie haben zum Teil die Schüsse gehört und den Einsatz von den Balkonen aus verfolgt. „Normalerweise ist es hier eine ruhige Gegend, doch plötzlich fühlte ich mich, als wäre ich irgendwo in Havanna“, erzählt einer von seiner Gefühlslage.

Graz stand still: 300 Polizisten und Polizistinnen standen im Einsatz. Rettung und Polizei sprachen vom bisher tragischsten Einsatz.
© Kleine Zeitung

„Als wäre ich in Havanna“

Zu diesem Zeitpunkt kursierten noch viele Gerüchte und Falschmeldungen. „In einer Gruppe habe ich gerade gelesen, dass zwei Täter noch auf der Flucht wären“, mutmaßt einer der Männer.

Amokläufe von Columbine bis Prag

Columbine (USA) 20. April 1999: In der Columbine High School in Littleton (Colorado) töten zwei mit Gewehren bewaffnete Schüler im Alter von 17 und 18 Jahren zwölf ihrer Mitschüler und einen Lehrer. Danach erschießen sich die Täter.

Erfurt (Deutschland), 26. April 2002: Am Gutenberg-Gymnasium richtet ein Ex-Schüler ein Blutbad an. Schwarz vermummt zieht der 19-Jährige durch das Gebäude und erschießt 16 Menschen. Dann tötet er sich selbst. Er war der Schule verwiesen worden.

Kauhajoki (Finnland), 23. September 2008: In der westfinnischen Kleinstadt Kauhajoki stürmt ein Amokläufer in eine Berufsschule und tötet acht Mitschülerinnen, einen Mitschüler und einen Lehrer. Danach legt der 22-Jährige Feuer und erschießt sich.

Winnenden (Deutschland), 11. März 2009: In seiner früheren Realschule in Winnenden bei Stuttgart und auf der anschließenden Flucht nach Wendlingen erschießt ein 17-Jähriger 15 Menschen und sich selbst. Die Waffe hatte er seinem Vater, einem Sportschützen, entwendet.

Newton (USA), 14. Dezember 2012: Bei einem Amoklauf an einer Grundschule in Connecticut kommen 27 Menschen ums Leben, darunter 20 Kinder aus der ersten Klasse. Der 20-jährige Schütze tötet sich selbst.

Kertsch (Ukraine), 17. Oktober 2018: Bei einem Angriff auf ein Gymnasium auf der Krim sind 20 Menschen getötet und mehr als 40 verletzt worden.

Uvalde (USA), 24. Mai 2022: Ein Schütze eröffnet das Feuer in einer Volksschule in Südtexas und tötet 19 Schulkinder und zwei Erwachsene. Der 18-jährige Verdächtige wird von Sicherheitskräften erschossen.

Ischewsk (Russland), 26. September 2022: Bei einem Amoklauf an einer Schule im westrussischen Ischewsk werden 17 Menschen getötet und 20 weitere verletzt.

Amphoe Na Klang (Thailand), Oktober 2022: In einer Kindertagesstätte in Thailand sterben bei einem Amoklauf mehr als 30 Menschen, darunter mehr als 20 Kinder. Der Täter, ein ehemaliger Polizist, tötet auch seine Frau, sein Kind und sich selbst.

Belgrad (Serbien), 3. Mai, 2023: Ein 13-Jähriger erschießt in einer Belgrader Grund- und Mittelschule neun Mitschüler und einen Wachmann.

Prag (Tschechien) 21. Dezember 2023: Ein Student tötet im Hauptgebäude der Philosophischen Fakultät in der Prager Innenstadt 14 Menschen und danach sich selbst.

Einmal um den Block, hinter dem sonst so belebten Sportplatz steht jemand vor seinem Wohnhaus und schüttelt ungläubig den Kopf in Richtung Schule blickend. „Ich bin von meiner Nachtschicht nach Hause gekommen, habe ferngesehen und hörte fünf Schüsse hintereinander. Erst dachte ich, das war im Fernseher, doch dann wurde mir bewusst, dass das von außerhalb meines geöffneten Fensters kam. Ich kann mich an das Echo der Schüsse erinnern, so laut waren sie.“ Andere Ohrenzeugen wollen 30 bis 40 Schüsse gehört haben.

Graz-Lend wurde am Dienstag großräumig abgesperrt: Es herrschte Ausnahmezustand.
© imago/Xinhua

Als der Mann kurz darauf die eintreffenden Kräfte der Cobra sieht, werden Schock und seine Angst immer größer. „Als ich in der Zeitung gelesen habe, was passiert war und dass die Polizei die Lage unter Kontrolle hat, habe ich mich etwas beruhigt. Dann kam die Trauer.“

Direkt neben der Schule, vor dem Spar, raucht ein junger Grazer mit zittrigen Händen eine Zigarette. „Meine Schwester hatte heute in der Früh einen Arzttermin und kam gerade wieder in der Schule an, als sie hörte, dass es Schüsse gab. Am Telefon erzählte sie das noch belustigt, weil sie meinte, es wäre ein Spaß, doch dann legte sie plötzlich auf. Kurz darauf bekam ich die Benachrichtigung, dass sie auf ihrem Handy einen Notruf abgesetzt hat. Mittlerweile wissen wir aber Gott sei Dank, dass es ihr gut geht.“

Gegen 10 Uhr vormittags feuerte der ehemalige Schüler die tödlichen Schüsse ab.
© APA/Hochmuth

„Sohn hat sich totgestellt“

Ähnliches schildern Eltern von zwei Schülern, die teils Zeugen der Schüsse wurden. „Mein Sohn hat mich kurz angerufen und mich beruhigt: ‚Alles okay, ich bin gesund.‘ Aber zwei seiner Schulfreunde sind tot. Er war in der 7C-Klasse, als der Täter plötzlich in der Tür stand und mit einer Pistole herumgeschossen habe. Er hat mir gesagt, dass er sich totgestellt und wohl deshalb überlebt habe“, berichtet ein schockierter, aber erleichterter Vater. Eine Mutter erzählte gegenüber „Sky News“, dass ihr Sohn sie angerufen habe, um zu sagen, dass er wohl sterben werde. Erst zwei Stunden später habe sie erfahren, dass er noch am Leben sei.

Mittlerweile werden die evakuierten Schülerinnen und Schüler mit Bussen u. a. in die Helmut-List-Halle sowie in das ASKÖ-Center in Graz-Eggenberg gebracht, wo sie am frühen Nachmittag von ihren Eltern und Familienangehörigen abgeholt werden konnten. Vor dem ASKÖ-Center warten weinende Mütter und weinende Väter. Die Gesichter der herausgehenden Schüler sind kreidebleich, mit zum Teil ausdruckslosen Blicken gehen sie aus der Halle oder fallen ihren Eltern um den Hals.

Gespenstische Ruhe

Eine gespenstische Ruhe legt sich über Graz-Lend. Laute Töne gibt es hier in diesen bedrückenden Stunden nicht. Nur ein paar zwitschernde Vögel und der wärmende Sonnenschein in dieser sonst so friedvollen Gegend.

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