„Der Prozess Pelicot“ in Wien

Sieben Stunden echter Schrecken: Wie monströsen Verbrechern der Prozess gemacht wurde

Safira Robens und Mavie Hörbiger (v.l.) in „Der Prozess Pelicot“.
© Nurith Wagner-Strauss

Gisèle Pelicot wurde von ihrem früheren Mann und zahlreichen weiteren Tätern unzählige Male missbraucht. Bei den Wiener Festwochen wurden in der Nacht auf Donnerstag die Protokolle des Prozesses gegen ihre Vergewaltiger verlesen. In einer Kirche.

Die Wiener Festwochen haben in der Nacht auf Donnerstag mit „Der Prozess Pelicot“ einen der monströsesten Missbrauchsfälle der französischen Kriminalgeschichte drastisch vor Augen führen lassen: Die stundenlange Verlesung von Dokumenten, für die Milo Rau als Regisseur und Servane Dècle als Dramaturgin verantwortlich zeichneten, kippte dabei zunehmend ins Schauspiel. Für zusätzliche inhaltliche Schwere sorgte auch der Ort der Inszenierung, eine Kirche in Wien-Wieden.

Festwochen-Chef Milo Rau hat ein Faible für gesellschaftlich relevante Gerichtsprozesse, Überlängen und minimalistische Inszenierungen und er blieb sich dabei auch in den späten Abendstunden des Mittwochs und frühen Morgenstunden des Donnerstags in der katholischen Pfarrkirche St. Elisabeth treu: In drei Akte und 48 Fragmente gegliedert, ließ er Schauspielerinnen und Schauspieler mehr als sechs Stunden lang Akten, Beschreibungen und Kommentare über und aus den Gerichtsverhandlungen gegen Dominique Pelicot und weitere fünfzig Angeklagte verlesen.

„Die Scham muss die Seite wechseln“

Der dreifache Vater und siebenfache Großvater Pelicot hatte seine Ehefrau Gisèle ohne ihr Wissen jahrelang immer wieder betäubt und sie in diesem Zustand im Familiendomizil im südfranzösischen Mazan von Dutzenden Männern zur Vergewaltigung angeboten. Sein Verbrechen war aufgeflogen, nachdem er 2020 versucht hatte, in einem Supermarkt Frauen unter den Rock zu filmen. Bei der folgenden Hausdurchsuchung stellte die Polizei Datenträger mit 20.000 Vergewaltigungsvideos sicher – Pelicot hatte den Missbrauch seiner wehrlosen Gattin durch ihn selbst sowie zumindest etwa weitere 70 Mittäter penibel dokumentiert.

Die Prozessprotokolle wurden in einer Wiener Kirche verlesen.
© Nurith Wagner-Strauss

Ein Gerichtsverfahren in Avignon endete im Dezember 2024 mit der Verurteilung des Haupttäters Pelicot zu 20 Jahren Haft und weiterer 50 Mittäter zu geringeren Haftstrafen. Insbesondere da sich Gisèle Pelicot für eine öffentliche Verhandlung entschieden hatte, sorgte der Prozess für globale Resonanz und ließ das Opfer zu einer Ikone im Kampf gegen männliche Gewalttäter avancieren. Die Scham, hielt sie zu Prozessbeginn fest, müsse endlich die Seite wechseln.

Minimalistisches Setting mit Kirchenecho

In der Elisabethkirche erhielt die Causa am Mittwoch und Donnerstag eine sehr einfache Bühne: Bei zwei kleinen Tischen saßen die Schauspielerinnen Mavie Hörbiger und Safira Robens, die Zwischenfragen und Beschreibungen zum Prozess und seinen Umständen vorlasen. Weiters fand sich ein Rednerpult, hinter dem Darstellerinnen und Darsteller unterschiedliche Rollen aus der Causa Pelicot annahmen und in der ersten Person Aussagen verlasen und derart quasi Zeugnis ablegten.

Zur Produktion

Der Prozess Pelicot. Ein Tribut an Gisele Pelicot im Rahmen der Wiener Festwochen in der Pfarrkirche St. Elisabeth. Recherche und Dramaturgie: Servane Decle. Recherche und Regie: Milo Rau. Produktionsdramaturgie: Nastasia Griese. Mit: Dorothee Hartinger, Mavie Hörbiger, Safira Robens und vielen anderen.

Darüber hing eine Leinwand, auf der die gerade sprechende Person in Großaufnahme gezeigt wurde. Ungewöhnlich für eine Kirche waren auch zwei Scheinwerfer, die für Bühnenlicht sorgten. Der nur schwach verstärkte Ton in der neogotischen Kirche, der sich wie durch das aus Messen bekannte Echo auszeichnete, verlieh den Ausführungen nahezu einen sakralen Charakter.

Damit unterschied sich das Setting drastisch von jenem im Gerichtsprozess selbst, der sich in einem neutralen Gerichtssaal mit abstrakter Kunst abgespielt hatte. Ein Bild dieses Saals war vor Beginn der Inszenierung auf die Leinwand projiziert worden.

Kurz nach Beginn der Aufführung ließ Rau auch ein Mail der deutschen Journalistin Britta Sandberg verlesen, die den Raum im Gerichtsgebäude genau beschrieb.

Eine Gerichtsverhandlung wird reinszeniert

Formal zunächst mehr Lesung von Texten als Theaterstück sorgten bei "Der Prozess Pelicot" die engagierten drei Dutzend Schauspielerinnen und Schauspieler zunehmend dafür, dass dieser Lesecharakter in den Hintergrund trat und der Eindruck einer reinszenierten Gerichtsverhandlung immer stärker wurde.

Überzeugend war etwa Dorothee Hartinger, die Gisèle Pelicot ihre Stimme verlieh, dies galt auch etwa für Sebastian Klein, der während der diesjährigen Festwochen tagtäglich in „Ein gefräßiger Schatten“ von Mariano Pensotti auftritt und darin auch vom von Francesco Petrarca bestiegenen Mont Ventoux erzählt.

Mit diesem sagenumwobenen Berg endete auch die Inszenierung von „Der Prozess Pelicot“ in den frühen Morgenstunden – Dominique Pelicot wanderte gerne in der Umgebung seines Wohnorts Mazan. Letzterer findet sich im Umland von Avignon, wo Raus Inszenierung in einer gekürzten Fassung am 18. Juli beim dortigen Festival ihre französische Premiere erfahren wird. (APA)

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