Von Wurstnudeln im Lepradorf bis zu einer abgehängten Hängebrücke
Bei einer Zeitung, die so alt geworden ist, gibt es auch Redakteure mit Vergangenheit. Anekdoten eines Schreibers.
Reutte, Innsbruck, Welt – Sebastian Kurz hat die Message Control perfektioniert, aber nicht erfunden. Ein Lechtaler Bürgermeister wäre – ohne das Wort überhaupt zu kennen – Vorbild dafür gewesen. Gemeinderatssitzungen in Tirol dürfen zwar von jedermann besucht werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass man auch willkommen ist. Gerade als Journalist.
Aus Elbigenalp gebe es Unglaubliches zu berichten, meldete jemand im Flüsterton am Telefon. Im Gemeinderat werde das Thema am selben Abend behandelt. Also nichts wie hin zu dieser Sitzung. Die „Bombe“ war in der Tagesordnung leider ganz hinten gereiht. Die unzähligen Punkte ermüdeten alle im Raum, bis es dem Dorfchef zu viel wurde. Das Meeting werde ja weit bis nach Mitternacht dauern, wenn es in diesem Tempo weitergehe. Also abbrechen, heimgehen und in einer schnell anberaumten nächsten Sitzung weitermachen, so sein Vorschlag.
Alle erhoben sich, der Redakteur der TT wurde mit Handschlag verabschiedet, alle verließen das Amt – und der Journalist kurvte zurück nach Reutte. Die Gemeinderäte samt Bürgermeister gingen derweil einmal ums Haus, wieder hinein und setzten die Sitzung fort. „Den sind wir los“, soll es freudig geheißen haben. Monate später beim nächsten Zusammentreffen blieb nichts anderes übrig, als dem „verdruckten“ Dorfchef zu gratulieren. Dieser Punkt war an ihn gegangen.
80 Jahre Tiroler Tageszeitung
Zum 80. Geburtstag der Tiroler Tageszeitung am 21. Juni gibt es eine 96-seitige Jubiläumsausgabe.
Mit Gottes Hilfe
Einmal hat sich ein Agrarobmann im Reuttener Talkessel unter den Fragen des Interviewers schier gewunden. Gut, dass es noch keine Videotelefonie gab. Seine Antworten erschienen im Kontext wenig glaubwürdig. Nach dem Interview hatte der Redakteur eine Eingebung und rief dem Agrarier durchs Telefon zum Abschied zu: „Wenn du gelogen hast, betest du drei Vaterunser!“ Ein Moment der Stille. Dann räusperte sich das Mannsbild auf der anderen Seite: „Okay, machen wir das Interview noch einmal. Ein paar Dinge sind wohl anders gelaufen.“ Eine göttliche Fügung.
Licht und Schatten
Im Zuge eines Landtagswahlkampfes war der schwarze Landeshauptmannstellvertreter Ferdinand Eberle zur Wahlwerbung in der vermeintlich roten Südtiroler Siedlung in Reutte. Eine Frau jammerte, dass eine riesige Fichte ihre Wohnung dauerhaft verdunkle, sie bei der Gemeinde als Eigentümerin aber kein Gehör finde. Wenn sie ÖVP wähle – ja, dann könne er was machen, brummelte Eberle. Sie wählte ÖVP.
Ein paar Wochen vergingen. Eines Sonntags machte sich ein ausgelassenes Trio mit einer Motorsäge auf den Weg von Heiterwang nach Reutte. Am Katzenberg rief Eberle noch schnell an: „Mitsch, wenn d’ ebas seacha willsch, dann kumsch.“ Der Redakteur wollte sehen – und nahm seinen kleinen Sohn mit, der schnell fragte, ob die Leute einfach so einen Baum mitten im Ort umsägen dürften. „Nein, aber wir bleiben.“ Die Riesenfichte fiel zentimetergenau am Haus entlang. Die Dame hatte Licht, Tirol für ein Weile einen Aufreger. Die Gemeinde Reutte mit dem roten Bürgermeister war hellauf entrüstet.
Einfach runterschlucken
Die Arbeit eines Außerferner Lokalredakteurs der TT endet keineswegs am Fernpass. Interviews mit Planseechef Michael Schwarzkopf in Santiago de Chile oder der Tiroler Chefin von L’Osservatore Romano, Astrid Haas, im Vatikan sind Beispiele.
Persönlich sehr bereichernd sind Reisen mit NGOs. Beim Tsunami-Wiederaufbau an der Nordspitze Sumatras legte sich die Caritas Österreich vorbildlich ins Zeug. Neben vielen anderen Projekten wurde ein neues kleines Dorf für Leprakranke, die dort abseits der Zivilisation leben müssen, errichtet. Als Dank hatten die Bewohner für die Delegation aufgekocht. Wurstnudeln gab es. Allen in der zehnköpfigen Besuchergruppe war angesichts des Settings der Appetit vergangen – eine gefühlte Unhöflichkeit sondergleichen den vom Schicksal so Geschlagenen gegenüber. Also als Einziger lächelnd zum Schöpfer greifen – und runterschlucken. Zwei volle Teller wurden es. Mit geschlossenen Augen ist noch heute der Geschmack präsent. Etwas schärfer hätten sie sein können, die Wurstnudeln.
Überschießendes Marketing
Die Errichtung der Highline 179 war ein touristischer Meilenstein im Außerfern. Die längste Fußgängerhängebrücke der Welt spannt sich mit 406 Metern über die Ehrenberger Klause in Reutte. Wirklich die längste? Die Betreiber behaupteten es zumindest. Internetrecherchen ergaben aber, dass im russischen Sotschi nahe dem Olympiaaustragungsort eine längere hängen könnte.
Ein mobiles Lasermessgerät wurde angeschafft, eine genaue Einweisung des Reuttener Geometers Peter Trefalt folgte. Vergleichsmessungen des mobilen Geräts und von Trefalts Hightechausrüstung brachten auf einen Kilometer Entfernung (vom Katzenberg zum Kirchturm Reutte) eine Abweichung von 50 Zentimetern. Die Technik war safe, der Redakteur gebrieft – es konnte losgehen. In Sotschi im Kaukasus angekommen half ein Dolmetscher, den Weg ins Hinterland zum AJ Hackett Skypark zu finden. Dann kam der spannende Moment der Erstmessung. Augenblicklich war alles entschieden, das Lasergerät zeigte 440 Meter an. Das russische Gehänge war 34 Meter länger. In Reutte waren die Marketingprofis nur kurz verdattert. Schon wenige Tage danach wurde die Highline 179 als längste Fußgängerhängebrücke der Welt im Tibet-Style beworben. Eine Nische, in der es sich gut leben ließ.
Mit Unterstützung ins Bordell
Reutte hat wie jede große Stadt ein Bordell. Das war nicht immer so. Bis das Etablissement im ehemaligen Hotel Urisee eröffnet werden konnte, mussten viele Hürden überwunden werden. Die TT war von Anfang an dabei, zeigte die Betreiberin, ihre Mühen und Stolpersteine, empörte Bürger, zwiegespaltene Gemeinderäte, für immer versperrte Zufahrten und Unterschriftensammlungen. Als schließlich alle Genehmigungen durch waren, ging es ans Aufsperren.
Ein Tag der offenen Türe sollte das Gebäude ohne Damen zeigen, zugleich Werbung sein und Aufgebrachte beruhigen. Konnte man da hingehen? Neugier kämpfte mit Pseudoscham. Die Lösung: Schwiegermutter, Mutter und Ehefrau wurden eingepackt – ein Familienausflug ins Puff.
Papst-Date spornte zu Mega-Fahrt an
Die Musikkapelle Vils war zur Privataudienz beim Papst in Castel Gandolfo geladen. Die TT wollte selbstverständlich berichten. Redakteur Mittermayr glaubte von München aus der Kapelle hinterherzufliegen, als die Maschine über dem Allgäu zu kreisen begann und um 21.30 Uhr am Ausgangsflughafen notlandete. Was tun? Am nächsten Tag um zehn Uhr war Audienz.
Nach neuneinhalbstündiger Nachtfahrt mit dem Auto waren die Ewige Stadt am Tiber und der Bus der Kapelle erreicht. Der Blick auf Papst Benedikt war dann lediglich durch etwas Müdigkeit getrübt.
Ehrwürdige Schwester im Kompott gegessen
Bei einem Besuch Venezuelas mit der Hilfsorganisation „Jugend Eine Welt“ gab eine dortige Don-Bosco-Schwester eine Erzählung zum Besten, die einem den Atem verschlug. Und zugleich wunderschön war. Die österreichische Missionarin und Ordensschwester Maria Wachtler hatte ihr Leben dem indigenen Stamm der Yanomami am Orinoco gewidmet.
Vor ihrem Tod 2016 verfügte sie, dass sie verbrannt werden sollte. Die Hälfte der Asche sollte konventionell bestattet, die andere zu den Yanomami gebracht werden. Das Volk mischte sie in eine Art Kompott, das alle aßen. Ein Akt besonderer Ehre. So konnte sie in der Geisterwelt der Yanomami aufgehen.