Schneiderkapelle in Hall: 600 Jahre altes Juwel wird zu einzigartigem neuem Kulturort
Lange war die ehemalige Schneiderkapelle in der Haller Altstadt fast vergessen – am Sonntag eröffnet die Pfarre das aufwendig renovierte Ensemble als neues Kulturzentrum. Mit wieder freigelegten gotischen Fresken und einem neu entdeckten spätromanischen Gebäude ist die Anlage eine kleine Sensation. Die TT durfte vorab Einblick nehmen.
Hall – Am Sonntag wird mitten in der Haller Altstadt ein außergewöhnlicher neuer – zugleich denkbar geschichtsträchtiger – Kulturort feierlich eröffnet: Die ehemalige Schneiderkapelle, ein denkmalgeschütztes Ensemble südlich der Stadtpfarrkirche, präsentiert sich nach zweijährigen aufwändigen Revitalisierungsarbeiten als neues „Kultur- und Gedächtniszentrum“ der Pfarre St. Nikolaus.
Die Geschichte des nur äußerlich unscheinbaren Juwels (auch als „Schneiderkirchlein“ bekannt) reicht weit zurück: Um 1410, also vor über 600 Jahren, wurde von Heinrich Reichschneider, einem einflussreichen Bürger jener Zeit, und seiner Frau Elspeth eine Liebfrauenkapelle gestiftet, am mittelalterlichen Friedhof neben der Pfarrkirche.
Wie der Website der Stadtarchäologie Hall zu entnehmen ist, verwaltete Elspeth die Stiftung spätestens ab 1411 mit ihrem zweiten Ehemann, Hans Sighart. Seit 1417 ist sogar eine Bruderschaft zu dieser Kapelle bekannt, die im öffentlichen Leben von Hall eine große Rolle spielte. Ihr prominentestes Mitglied war Eleonore von Schottland, Gemahlin von Herzog Sigmund dem Münzreichen. Um 1430 wurde die Kapelle umgebaut und eindrucksvoll ausgemalt.
Spektakuläre Ausgrabungen: Romanisches Haus unter der Kapelle
Ende des 16. Jahrhunderts ließ der Schneider und Bürger Wolfgang Prem die Kapelle ein weiteres Mal renovieren. 1832/33 wurde sie jedoch aufgegeben, mit einem Nachbargebäude vereint, zum Lagerraum umgebaut und weitgehend abgetragen. Nur die Süd- und Teile der Westwand – mit reichem Freskenschmuck – blieben erhalten.
Doch das ist längst nicht alles: Archäologische Ausgrabungen in den vergangenen Jahren brachten ebenso unerwartete wie spektakuläre Ergebnisse zutage – konkret ein spätromanisches Bauwerk unter der einstigen Kapelle. Dieses war über Jahrhunderte im gesamten Bestand unverändert geblieben und vermittelt „ein bis dato unerreichtes Bild vom Inneren mittelalterlicher Stadthäuser im gesamten Tiroler Raum“, wie der ehemalige Landeskonservator Walter Hauser schreibt.
Ins oberste Geschoß dieses Haus, gemäß Mauerwerk und Deckenbalkenresten auf etwa 1320 zu datieren, wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts eben die Kapelle eingebaut, mit Kreuzrippengewölbe und schließlich mit Wandmalereien versehen. Das Haus selbst wurde komplett mit Friedhofserde aufgefüllt.
Wieder sichtbar – kostbare gotische Fresken
Nun ist im revitalisierten Baudenkmal – das acht Meter in die Tiefe reicht – wieder alles zu sehen: Mauerwerk und Boden des 700 Jahre alten Wohnbaus ebenso wie die beeindruckenden Fresken der Kapelle aus dem 15. Jahrhundert, laut Walter Hauser „der größte Neufund gotischer Wandmalereien der vergangenen Jahrzehnte in Tirol“.
„Die Fresken waren übertüncht, man hat nur noch geahnt, dass sie darunter sind“, berichtet Pfarrer Jakob Patsch.
Gut zu erkennen ist unter anderem eine Reihe von Heiligen mit plastisch in den Putz eingedrückten Heiligenscheinen. Dominiert werden die Fresken von einer Darstellung der heiligen Barbara, Schutzpatronin des für Hall so zentralen Bergbaus, nebst Kelchen. Auch ein später an die Kirchenwand gemaltes, vom Chronisten Ignaz Mader (um 1830) beschriebenes Schneiderwappen ist heute wieder wunderbar zu sehen.
2,5 Millionen Euro investiert
Nachdem die Schneiderkapelle lange ein „Schattendasein“ geführt hat, wie Patsch meint, öffnet die Pfarre das Ensemble nun als Ort für kulturelle Veranstaltungen, Gedenkformate und Ausstellungen. In die Revitalisierung von Gebäude und Platz flossen ca. 2,5 Mio. Euro, wovon rund ein Drittel öffentlich gefördert wird (vor allem über Landesgedächtnisstiftung). Den Rest stemmt die Pfarre selbst.
Die ehemalige „Rumpelkammer“, die an die profanierte Kapelle anschloss, steht im Erdgeschoß nun als Veranstaltungsraum mit Platz für rund 80 Personen bereit. Mächtige, ebenfalls renovierte Kirchenkästen dienen ebenso als Blickfang wie eine Skulptur des Haller Bildhauers Josef Bachlechner der Jüngere und das neue Lichtkonzept vom Studio Bartenbach.
Über eine Treppe oder einen „gläsernen“ Lift, der Gebäude barrierefrei erschließt, taucht man tief ins spätromanische Gebäude ein. Am Treppenabgang hat eine Nikolaus-Büste (um 1500) Platz gefunden, die lange im Depot des Haller Stadtmuseums schlummerte, daneben wurden Schlusssteine der gotischen Vorgängerkirche von St. Nikolaus platziert.
Auftakt mit Pfaundler-Ausstellung
Im angrenzenden Kellergewölbe, das im Gegensatz zum romanischen Gebäude schon bekannt war, wurde ein atmosphärischer Raum mit Bar geschaffen. Ebendort ist ab 29. Juni eine erste Ausstellung zu sehen: Die Schwarz-Weiß-Fotografien des bekannten Volkskundlers und Schriftstellers Wolfgang Pfaundler (1924-2015) hat die Pfarre aus dessen Nachlass geschenkt bekommen. Sie können um 300 Euro pro Bild erworben werden, die Einnahmen kommen dem künftigen Kulturprogramm der Pfarre zugute. Eine Idee für die nächste Ausstellung gibt es auch schon: historische Fotografien von Hall.
„Kein braves Programm“
Sechsmal pro Jahr stehen die neuen Räume der Stadt Hall für Veranstaltungen zur Verfügung. Die Pfarre selbst plant ebenfalls „mehrere hochwertige Veranstaltungen pro Jahr“, etwa Lesungen, kleinere Konzerte, Filmvorführungen oder Podiumsdiskussionen. Laut Pfarrer Patsch soll es „kein braves Programm“ sein, „sondern eines, an dem man sich auch reiben kann“. Nicht umsonst wurde im glasverkleideten Eingangsbereich zur Schneiderkapelle das Wort „Widerstand“ großformatig angebracht.
Pater Franz Reinisch, nach dem der nun ebenfalls neu gestaltete Platz zwischen Kirche und Schneiderkapelle seit 2023 benannt ist, steht hier gewissermaßen Pate: Reinisch, der in Hall acht Jahre das Gymnasium besuchte, verweigerte aus Gewissensgründen dem NS-Regime die Gefolgschaft und wurde 1942 unweit von Berlin wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet.
„Er ermutigt zu einem aufrechten Gang, dazu, nicht angepasst zu leben und kein Mitläufer zu sein“, sagt Patsch. Das soll sich eben auch im Programm widerspiegeln. So ist im Herbst eine Lesung aus den Tagebüchern des ehemaligen Haller Magistratsdirektors Ernst Verdross (1892–1963) geplant. Dieser war wegen Widerstands gegen das NS-Regime im KZ.
Erinnerung an regionalen NS-Widerstand
Apropos: Im Außenbereich der Schneiderkapelle befindet sich eine neue Tafel mit 237 alphabetisch geordneten Namen: Männer und Frauen mit Bezug zu Hall und Umgebung, die während der NS-Zeit Widerstand leisteten (vom katholischen bis zum sozialistischen Widerstand) und dafür verfolgt, inhaftiert, teils ermordet wurden. Recherchiert wurde die – erweiterbare und mit einem QR-Code versehene – Liste von der Historikerin Elisabeth Walder.
Am Franz-Reinisch-Platz selbst befindet sich zudem ein besonderes Kunstwerk, das an die zahllosen Opfer des NS-Regimes erinnert – die wuchtige Bronzeskulptur „geköpft“ von Lois Anvidalfarei.
Übrigens: Am Platz zwischen Pfarrkirche und Schneiderkapelle kam es im heurigen Frühjahr zu Grabungsarbeiten für eine Drainage, für die Heizung des neuen Kulturzentrums mittels Erdwärme musste zudem 150 m tief hinuntergebohrt werden. Betroffen war davon der ehemalige Friedhof, was in Hall auch für Kritik sorgte und die Archäologen vor keine einfache Situation stellte. Laut Patsch wurden Dutzende Gebeine fachmännisch geborgen, sie werden am Haller Friedhof beigesetzt.
Eröffnungsfeier Kulturzentrum in der ehemaligen Schneiderkapelle
- Sonntag, 29. Juni, 9.30 Uhr: Festgottesdienst in der Stadtpfarrkirche St. Nikolaus (musikalisch gestaltet vom Kirchenchor Hall unter der Leitung von Hannes Christian Hadwiger)
- Anschließend Festakt und Agape am Franz-Reinisch-Platz
- Die Ausstellung mit Bildern von Wolfang Pfaundler im neuen Kulturzentrum läuft bis Ende September