Humaitäre Katastrophe

Die Opferzahl im Gazastreifen könnte weit höher sein

Eine junge Palästinenserin trauert um ihre getöteten Verwandten in Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Unterdessen hat Israels Armee ihre Angriffe auf den abgeriegelten Küstenstreifen wieder verstärkt.
© AFP

Wissenschafter gehen in einer Studie von mehr als 75.000 Toten bis zum Jänner 2025 aus. Sie untersuchten auch Todesfälle durch Hunger, Kälte, Krankheiten und fehlende medizinische Versorgung.

Gaza – Israel hat seine Angriffe im Gazastreifen weiter verstärkt: Einwohner im Norden des Palästinensergebiets berichteten von den schwersten Bombardierungen und Artillerie-Angriffen seit Wochen. Israelische Panzer seien in der Nacht zum Montag in einen Vorort von Gaza-Stadt vorgestoßen und hätten mehrere Gebiete unter Beschuss genommen. Flugzeuge hätten mindestens vier Schulen attackiert. Zuvor seien Familien aufgefordert worden, die Gebäude zu verlassen.

Umfrage unter Haushalten

Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor mehr als 20 Monaten wurden nach Angaben der von der Terrororganisation Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 56.300 Palästinenser im Gazastreifen getötet. Diese Angaben machen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten. Doch die Opferzahl im Gaza-Krieg könnte weit höher liegen. In der israelischen Tageszeitung Haaretz wurde ein Wirtschaftswissenschafter vom Royal Holloway College an der Universität London zitiert, der von 75.200 Toten bis zum Jänner 2025 spricht.

In einer Studie untersuchte Michael Spagat mit weiteren Forschern die Sterblichkeit im Gazastreifen. Sein Team befragte 2000 Haushalte im Gazastreifen. Sie kamen zum Schluss, dass es weit mehr Opfer geben müsse als jene Zahl, die von der Gesundheitsbehörde in Gaza veröffentlicht wird. Viele der Opfer seien von den Behörden in Gaza nie registriert worden oder noch unter den Trümmern der zerbombten Gebäude begraben.

Spagat und sein Forscherteam stellten sich auch die Frage, wie viele Menschen an den indirekten Folgen des Krieges sterben mussten: an Hunger, Kälte und Krankheiten, die aufgrund der Zerstörung des Gesundheitssystems nicht behandelt werden können.

Mit zunehmender Kriegsdauer schwinden die Widerstandskräfte der unterernährten und immer wieder von Neuem vertriebenen Menschen – die Todeszahlen werden weiter steigen. Und Spagat lieferte noch eine erschreckende Zahl: Laut den Umfragen seien 56 Prozent der Getöteten Kinder bis 18 Jahre oder Frauen. Israels Armee spricht hingegen immer wieder von 20.000 getöteten Terroristen der Hamas.

Indessen erklärte Israels Premier Benjamin Netanjahu, dass die Angriffe auf den Iran „weitreichende regionale Möglichkeiten“ eröffnet hätten, einschließlich der Befreiung der Geiseln im Gazastreifen. „Zunächst einmal müssen wir die Geiseln befreien“, erklärte er beim Besuch des Inlandsgeheimdienstes.

Druck der USA auf Israel

Seine Äußerung wurde laut der Times of Israel so interpretiert, dass Netanjahu jetzt die Rückkehr der Geiseln priorisiert – vor allem anderen wie dem Sieg über die Hamas.

„Natürlich müssen wir auch das Gaza-Problem lösen und die Hamas besiegen, aber ich glaube, dass wir beide Aufgaben bewältigen werden“, wurde Netanjahu zitiert. Israel sehe sich zunehmendem Druck der USA ausgesetzt, eine Einigung zur Beendigung des Krieges zu erzielen, schrieb die Times of Israel. US-Präsident Donald Trump hatte gesagt, er gehe davon aus, dass in dieser Woche eine Waffenruhe erreicht werden könne.

Die deutsche Regierung zeigt sich unterdessen besorgt über die „Gewalt im Zusammenhang mit der Ausgabe von Lebensmitteln“ im Gazastreifen. „Notleidende Menschen dürfen beim Empfang von Lebensmitteln nicht ihr Leben riskieren müssen“, erklärte Regierungssprecher Stefan Kornelius. (TT, dpa)