Dorothee Elmiger gewinnt den Deutschen Buchpreis für „Die Holländerinnen“
Der Deutsche Buchpreis zählt zu den wichtigsten Auszeichnungen der deutschsprachigen Literaturbranche. Am Montagabend wurde die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung der Schweizerin Dorothee Elmiger zugesprochen.
Der mit 25.000 Euro dotierte Deutsche Buchpreis geht heuer an die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger. Elmiger, Jahrgang 1985, wird für ihren Roman „Die Holländerinnen“ ausgezeichnet. Das gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels am Montagabend in Frankfurt bekannt.
„Dieser Roman ist ein Ereignis“, heißt es in der Begründung der Jury. Elmigers Stil sei gleichzeitig distanziert und doch fesselnd, und das Buch sei „ein faszinierender Trip ins Herz der Finsternis“.
Am Donnerstag, dem 20. November, stellt die Autorin ihr nun ausgezeichnetes Buch im Innsbrucker Literaturhaus am Inn vor. Elmiger ist für „Die Holländerinnen“ auch für den Schweizer Buchpreis nominiert; dieser wird am 16. November in Basel vergeben.
Worum geht es in dem Roman?
„Die Holländerinnen“ handelt von einer kollektiven Grenzüberschreitung im Regenwald Südamerikas. Erzählt wird die unheimliche Geschichte weitgehend in der indirekten Rede. Eine Autorin berichtet in einer Poetikvorlesung von ihrer Reise in den Dschungel als Teil einer Theatergruppe. Diese ist auf den Spuren zweier holländischer Backpackerinnen, die vor Jahren dort tatsächlich verschwunden sind. Doch das Projekt läuft ziemlich aus dem Ruder: Die Gruppe wird vom Urwald nahezu verschluckt und erzählt sich verstörende Geschichten.
„Je tiefer sie sich im Dickicht und Morast verläuft, desto mehr reißt Elmiger die Leserinnen und Leser in einen Sog der Angst. Ihr Roman erzählt von Menschen, die in ihr ,dunkelstes Gegenteil’ verfallen“, erklärt die Buchpreisjury. „Indirekt ist dabei nicht nur Elmigers Sprache, sondern auch ihr Verweis auf unsere Gegenwart, die Schritt für Schritt in Selbstüberhebung versinkt.“
Ist das Buch tatsächlich preiswürdig?
Auf jeden Fall. Die Lektüre lässt einen nicht mehr los, auch wenn in dem Buch vieles unklar bleibt: Nichts wird zu Ende erzählt, nichts aufgeklärt. Konkret ist nur die Verunsicherung. Die Sprache bildet diesen Grusel perfekt ab: Sätze winden sich wie Schlingpflanzen um eine dunkle Mitte, und der Konjunktiv distanziert das Geschehen von der Realität.
„Der Horror liegt naturgemäß außerhalb der Sprache“, schreibt Elmiger, er sei, „wenn man so wolle, ihr Gegenteil“. Das darzustellen, gelingt ihr meisterhaft. Wer das Buch lesen will, könnte derzeit allerdings Pech haben: Der beim Hanser Verlag erschienene Titel ist vielerorts vergriffen und hat nach Auskunft von Buchhändlern mitunter mehrere Wochen Lieferzeit.
Wer geht leer aus?
Der Deutsche Buchpreis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche und wird traditionell am Tag vor der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergeben. Neben Elmiger waren noch fünf weitere Kandidatinnen und Kandidaten in der engeren Auswahl: Kaleb Erdmann („Die Ausweichschule“), Jehona Kicaj („ë“), Thomas Melle („Haus zur Sonne“), Fiona Sironic („Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“) sowie Christine Wunnicke („Wachs“). Wirklich leer, freilich, geht niemand aus: Alle Nominierten bekommen 2500 Euro Preisgeld.
Die fünf Nominierten im Überblick
Machtvolles Erzählen und Erinnern
Die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger schickt zwei Touristinnen in den Dschungel – und eine Theatergruppe auf die Suche nach dem, was von ihnen bleibt. Ein kluger, vielstimmiger Roman über Erinnerung, Macht und das Erzählen.
- Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Carl Hanser Verlag, 160 Seiten, 24,50 Euro.
Schmerz wird Sprache
Ein Roman über Leben, Tod und die fragile Balance dazwischen. Thomas Melle, der offen über seine bipolare Störung schreibt, verwandelt Schmerz in Sprache: klar, hart, unerschrocken – mit sarkastischem Witz. Melle ging schon zum dritten Mal ins Rennen um die Auszeichnung – und wurde im Vorfeld hoch gehandelt.
- Thomas Melle: Haus zur Sonne. Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 25,50 Euro.
Freiheit für Körper und Geist
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts brechen zwei Frauen aus dem Korsett ihrer Zeit aus. Christine Wunnicke erzählt das federleicht, ironisch, mit Sinn für das Abgründige und das Aberwitzige. Eine Erzählung über Körper, Geist und Freiheit – elegant, eigensinnig, gefährlich schön.
- Christine Wunnicke: Wachs. Berenberg, 176 Seiten, 25,50 Euro.
Autofiktion ohne einfache Antworten
Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ konfrontiert Trauma, Erinnerung und Aufschreiben in einem fein ausbalancierten Meta-Spiel. Der Text tastet sich autofiktional an den Amoklauf von Erfurt (2002) heran – und verweigert sich einfachen Antworten.
- Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule. Park X Ullstein, 304 Seiten, 22,70 Euro.
Ein stiller Text über das in die Luft jagen
Fiona Sironic erzählt von zwei Mädchen, die einen eigenen Weg durch ihre digital überhitzte Umwelt suchen. Auch wenn es – der Titel kündigt es an – knallt, ist „Am Samstag...“ ein stiller Roman über Selbstbestimmung – und das Verschwinden der Vögel.
- Fiona Sironic: Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft. Ecco Verlag, 208 Seiten, 24,50 Euro.
Eine Sprache für das Unsagbare
Jehona Kincajs „ë“ handelt von Verwerfungen, Flucht und der Suche nach Sprache. Der titelgebende Buchstabe – im Albanischen oft stumm – steht für das Verdrängte und Unsagbare. Dem nähert sich Kicaj, die mittlerweile in der Schweiz lebt, mit beeindruckender Präzision an.
- Jehona Kicaj: ë. Wallstein, 176 Seiten, 22,70 Euro.
In den vergangenen Wochen waren verschiedene Favoriten in den Medien gehandelt worden; neben Elmiger wurde vor allem Thomas Melle hoch gehandelt.
Elmiger wollte während des Schreibens aufgeben
Ihr Buch „Die Holländerinnen“ sei entstanden, weil sie über verschiedene Formen von Gewalt, Beherrschung und Dominanz habe nachdenken wollen, sagte Elmiger im September in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung. „Ich hatte gemerkt, dass mein Text sehr düster ist, auch verzweifelt. Darin entspricht er mir eigentlich nicht. Ich habe trotz allem eine große Zuversicht.“
Sie habe beim Schreiben des Buches fast aufgegeben, sagte Elmiger. Sie habe drei, vier Jahre lang immer wieder alles verworfen. „Es wurde immer schlimmer, bis ich dachte: Ich muss mich vom Schreiben verabschieden, diese Phase meines Lebens ist nun vorbei.“ Dann sei es gewesen, als habe sich plötzlich eine Handbremse gelöst. Den Endspurt beschreibt sie als „beinahe fiebriges Schreiben“.
Jury hatte 229 Romane gesichtet
Für den diesjährigen Buchpreis hatte die Jury 229 deutschsprachige Romane gesichtet, die zwischen Oktober 2024 und Mitte September 2025 erschienen sind. Zunächst wurden 20 Bücher für die Longlist ausgewählt; diese wurde dann auf die sechs Titel umfassende Shortlist gekürzt. (TT, dpa, APA)
Am Dienstag geht‘s los
Es geht um viel mehr als Bücher: Was bei der Frankfurter Buchmesse zu erwarten ist
Nobelpreis für Literatur
László Krasznahorkai: Eine ästhetisch zwingende, politisch gewichtige Wahl
Osteuropa-Experte ausgezeichnet