Die offenen Arme der Hoffnungslosigkeit
Péter Nádas beschreibt in seinen grandiosen „Parallelgeschichten” die Folgen der Weltgeschichte auf Lebensgeschichten.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Am schwersten hatten es Schriftsteller, die in einem kommunistischen System die sie umgebende Gesellschaft mit ihren Verformungen abbilden und Romane schreiben wollten, in denen es sich dann auch noch wohnen ließ. Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, hat daher den Berufsweg eines Fotografen gewählt, während seine Romane als Manuskripte in Schubladen aufbewahrt werden mussten. Solche Erfahrungen erlauben es dann bei entsprechendem Charakter, 18 Jahre lang in Archiven und Bibliotheken Material zu sammeln und einen Roman mit 1728 Seiten wie „Parallelgeschichten” zu schreiben. Keine der Geschichten wird nach traditionellen Kriterien zu Ende erzählt, dennoch ist der Roman ein beinahe vollkommenes Gebäude, für dessen Übersiedlung ins Deutsche Christina Viragh eben mit dem Europäischen Übersetzerpreis und dem Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.
Samu Demèn hängt als Architekt Ende des 19. Jahrhunderts am Eklektizismus, aber wenn er in Budapest ein Ringstraßenpalais entwirft, können zum Stiegenhaus fahrende Pferdegespanne im Innenhof bequem wenden. Dennoch, Demèn erlebt als Architekt nur Verachtung, die in erster Linie dem Juden gilt.
Der Taxifahrer Bellardi, in der Vorkriegszeit Graf und Maybachfahrer, spürt 1961 noch eine leichte Erektion, aber auch diesen Ekel, als sich die Demèn-Enkelin Erna in den Fond seines Taxis setzt. Dabei ahnt er nicht einmal, dass er seinen gesellschaftlichen Abstieg Ernas Ehemann verdankt, der unter den Nazis, aber später auch bei den Kommunisten virtuos die Nationalismus-Karte ausspielen konnte.
Nádas nützt den Eklektizismus, um dem Jahrhundert, der Weltgeschichte seiner Erzählung, mit verschiedenen Stimmen und Stilen beizukommen. Der Dekadenz nähert er sich mit der Sprache Gabriele D’Annunzios, wenn sich Erna in den 30er-Jahren in einer lesbischen Beziehung verliert. Ob sich mit einem Satz wie „Ihre vollen Lippen, die in dem weißen Gesicht auch sonst so eigenartig und fremd wirkten, zitterten.” noch große Gefühle transportieren lassen, bleibt fraglich.
Aber diese Taxifahrt wird zweifellos als Meisterwerk über das Zerdehnen von Zeit in die Literaturgeschichte eingehen. Nichts ist gewiss in den „Parallelgeschichten”, die vor allem von Dreiecksgeschichten erzählen. Ein Mann zwischen zwei Frauen, aber es ist letztlich die Hoffnungslosigkeit, „die mit offenen Armen auf ihn wartete”. Wie ein Schachspieler prüft Nádas alle Figurenkonstellationen. Während sich Erna in das Krankenhaus fahren lässt, schwimmt ihr Sohn mit zwei Kollegen vom Geheimdienst im Lukács-Bad, um die Vorgänge im Politbüro zu verstehen. „Es müsste sich tatsächlich alles so ändern, dass alles beim Alten bleibt.” Es ist das Jahr 1961, „niemand hat ein Patentrezept für die Modernisierung der Diktatur des Proletariats”. Der Erzähler sagt: „Die Menschen sind von Geburt her tatsächlich gleich, schön und gut, aber sie sind gierige Tiere“, Welt- und Lebensgeschichte treffen sich.
Péter Nádas: Parallelgeschichten. Roman. Deutsch aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag. 1728 Seiten, 41,10 Euro.
Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten. Rowohlt Verlag. 240 Seiten, 17,50 Euro.