Innenpolitik

Demokratie ist längst in Gefahr

Der deutsche Philosoph Oskar Negt über die Gefahren unserer Gesellschaft: Wenn Politiker ihre Entscheidungen alternativlos nennen und Bürger ins Private fliehen, droht die Erlahmung von Demokratie.

Wien –Das Vertrauen in die Institutionen der Gesellschaft nimmt rapide ab. Zugleich werden von den politischen Akteuren jene Instrumente, die Demokratie ausmachen, zusehends ignoriert. Mit Blick auf die Verfassung und den Parlamentarismus gilt dieser ernüchternde Befund durchaus auch für Österreich. In den Ländern im Osten Europas spricht eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung bereits von einer „defekten Demokratie“. In der Politikwissenschaft spricht man längt von Postdemokratie.

Der Philosoph Oskar Negt (er war auf Einladung von Südwind in Innsbruck) nimmt sich dieser Erosionserscheinungen an. Für ihn ist Demokratie die einzige Regierungsform, die gelernt werden muss. In seinem Buch „Der politische Mensch“ plädiert er dafür, sich politisches und historisches Wissen anzueignen. Denn nur dann entwickelt sich jenes Sensorium für die Gefahren, die der Demokratie drohen.

Christa Wolf fragt in ihrem Buch Kassandra: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Sie beschäftigen sich in Ihrem jüngsten Buch mit der Gefahr der Aushöhlung von Demokratie. In Anlehnung an Christa Wolf will man fragen: Wann wird es für die Demokratie gefährlich?

Oskar Negt: Ich würde als Erstes hier das Atmosphärische nennen. Cicero hat von der res publica amissa gesprochen, also von der vergessenen, der vernachlässigten Republik. Ich würde hier von einer democracia amissa sprechen. Denken sie doch nur an die Legitimation gesamteuropäischer Entscheidungen. Im Grunde zweifeln doch die Menschen längst daran, ob ihr Votum etwas bewirkt. An diesem atmosphärischen Gefühl gegenüber dem komplizierten Gebilde Demokratie ist für mich ablesbar, dass sich andere gesellschaftliche Kräfte formieren. Blicken Sie nach Ungarn oder die Niederlande, blicken sie generell auf die Attraktion antidemokratischer Gruppierungen.

Ist nicht auch die Sprache entlarvend? Regierungspolitiker bezeichnen nationale Sparpakete und europäische Rettungsprogramme als alternativlos. Heben sie damit nicht das Prinzip von Demokratie aus den Angeln?

Negt: Der Begriff der Alternativlosigkeit kommt einer ideologischen Abwehr gleich, um sich nicht mit Demokratie auseinandersetzen zu müssen. Gerade beim Griechenland-Rettungsprogramm geht es doch nicht um eine Rettung Griechenlands, sondern um die Rettung des europäischen Bankensystems.

Mit den Berlusconi-Jahren kam der Begriff der Postdemokratie in Verwendung. In Griechenland und in Italien wird eine gewählte Regierung durch eine Technokratenregierung ausgetauscht. Euro-Rettungsprogramme werden an den Parlamenten vorbei entschieden.

Negt: Angesichts des sensiblen Instruments Demokratie müsste uns in Gegenwart solcher Ereignisse angst und bange werden. Mit solcher Politik leistet man dem Ruf nach autoritären Rettern Vorschub. Hier höhlt sich ein demokratisches System aus. Erkennbar ist dies auch an der Zunahme von Direktorialverfassungen. Wir sind in der höchsten Gefahr, die Demokratie zu verspielen.

Mit Ihrem Buch versuchen Sie dagegenzuhalten. Sie betonen die Notwendigkeit der Bildung, der politischen Bildung. In Zeiten einer Flucht ins Private, in Zeiten der Politikverdrossenheit und des Populismus wirkt Ihr Aufruf nicht nur wenig attraktiv, er wirkt naiv.

Negt: Er ist naiv. Doch soll man sich der Flucht ins Private ergeben, die Sie zu Recht erkannt haben? Der Rückzug ins Private? Die alten Griechen sprachen hier übrigens von Idiotie im doppelten Sinne von Privatheit und Torheit. Der unpolitische Mensch war demnach der Idiot. Doch wenn die Gesellschaft zusehends aus unpolitischen Menschen besteht, beginnt die Demokratie zu erlahmen. Natürlich begrüße ich etwa die Occupy-Bewegung. Wenn sie so wollen, bin ich für die Stärkung der außerparlamentarischen Opposition. Doch zugleich stelle ich fest, dass die Zeit der Barrikaden vorbei zu sein scheint. Ich baue im Sinne Kants auf Aufklärung. Es braucht neben der politischen Bildung zudem eine neue Durchflutung der Gesellschaft mit Demokratie.

Denken Sie an den Ausbau direkter Demokratie?

Negt: Ich betrachte die Dialektik von repräsentativer und direkter Demokratie als bewegendes Element. Es geht mir keinesfalls um die Abschaffung der repräsentativen Demokratie, doch sollten wir uns um eine neue Balance von repräsentativer und direkter Demokratie bemühen.

Wer sollte die politische Bildung aller betreiben?

Negt: Wir sind alle aufgefordert, neben der Qualifikation Metaphysik des Marktes in die politische Bildung zu investieren. Es gibt ein dichtes Netz an Volkshochschulen, dies sollte man nützen. Demokratie ist nichts Selbstverständliches, Demokratie ist Arbeit. Und mit der Arbeit an Demokratie könnte etwas Neues wuchern.

Das Interview führte Michael Sprenger