Song Contest 2012: Schlaglicht auf Massenenteignungen in Baku
Baku (dpa) - Die eingerissenen Häuser und Trümmer im Zentrum der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku erinnern stellenweise an Kriegsruinen. ...
Baku (dpa) - Die eingerissenen Häuser und Trümmer im Zentrum der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku erinnern stellenweise an Kriegsruinen. Sie sind Zeugnisse dafür, dass sich der Gastgeber des Eurovision Song Contest im Mai zur reichen Glitzermetropole am Kaspischen Meer mausert. Die Schattenseite des dank satter Ölgeschäfte neu geformten Stadtkerns sind Zwangsumsiedlungen: Tausende sehen sich auf brutale Weise um ihr Eigentum betrogen. Und sie nutzen die internationale Aufmerksamkeit zum ESC, um auf ein altes Problem der Millionenstadt hinzuweisen.
Noch immer fassungslos, aber ruhig erzählt Nurija Chalikowa, wie Uniformierte ihre Wohnungstür aufbrachen, ihr ganzes Hab und Gut in Säcke verstauten und sie selbst rauswarfen. Die blonde Frau, Ende vierzig, sitzt in Baku im Büro ihres Anwalts Fuad Agajew, der Klagen Zwangsenteigneter durchboxen will - auch vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Chalikowa zeigt eigene Videoaufnahmen von dem Einsatz am 18. November 2010. „Freunde hatten mich aufgenommen, sonst wäre ich auf der Straße gelandet“, sagt sie.
Zwar habe sie letztlich eine Entschädigung erhalten und wohne - verschuldet mit Kredit - in einer neuen Wohnung im Zentrum. Aber um ihr Recht auf Schutz des Eigentums, eine menschenwürdige Behandlung und faire Entschädigung kämpft sie weiter. Allein der Jurist Agajew hat rund 40 Fälle auf dem Tisch. Unter dem autoritären Präsidenten Ilcham Alijew habe die Polizei- und Justizwillkür beispiellose Ausmaße erreicht. „Das gab es nicht unter seinem Vater, Präsident Gajdar Alijew, und nicht zu Sowjetzeiten“, sagt der 51-Jährige.
In seinem Büro sitzt auch die 61 Jahre alte Unternehmerin Jassjamjan Kjarimowa, die ihr inzwischen abgerissenes Haus vermietet hatte. „Meine Familie hat von den Einnahmen gelebt“, klagt sie mit tränenfeuchten Augen. Auch wenn die staatliche Abrisspolitik nicht mit dem Musikwettbewerb zusammenhänge, so sei es doch gut, dass der Song Contest die Aufmerksamkeit auch auf die Straßenproteste der Enteigneten lenke.
Die Betroffenen äußern sich empört über die jüngsten Aussagen von Staatschef Alijew, der die „Lügenpropaganda“ in ausländischen Medien kritisierte. Bei einer Rede im staatlich kontrollierten Fernsehen warf er dem Westen eine „Verleumdungskampagne gegen Aserbaidschan“ vor. Die Umsiedlungen begründete er in der Sendung damit, dass viele Gebäude in der Stadt illegal errichtet worden seien.
„Es ist nicht gut, Häuser zu zerstören“, räumt Präsidentenberater Ali Gassanow im Gespräch ein. Aber im Zuge des chaotischen Zerfalls der Sowjetunion hätten viele illegal Wohnungen errichtet. Wer keine Entschädigung wolle, der könne auch eine Ersatzwohnung am Stadtrand beziehen. Staatliche Stellen verweisen zudem immer wieder darauf, dass etwa die neue Crystal Hall für den Gesangswettbewerb auf einer früher als Militärbasis genutzten Landzunge am Kaspischen Meer entstanden sei.
Doch das Problem bleibt. Auf dreiste Weise würden viele Gebäude in einen einsturzgefährdeten Zustand gebracht: Brandstifter seien am Werk, oder Dächer oder Wände würden zertrümmert, sagt der Jurist Agajew. Die Bürger würden ohne vorherige Warnung oder Verträge enteignet. Der Anwalt beklagt auch, dass die staatliche Entschädigungspauschale von 1.500 Manat (etwa 1.400 Euro) je Quadratmeter oft nicht dem tatsächlichen Wert entspreche.
„Mitunter geht es um wertvolle Gebäude in Bestlagen mit hohen Decken, Kellern und Balkonen - das wird alles nicht mitgerechnet“, sagt Agajew. Warum die Flächen im Stadtzentrum vom Staat beansprucht würden, darüber gebe keiner Auskunft, auch kein Generalplan für die Entwicklung Bakus. Stattdessen werde überall zugunsten neuer Bürogebäude und Villen Grund und Boden gehortet. Dabei würden nicht zuletzt alte Architekturdenkmäler mit einzigartigen Fassaden, Skulpturen, Reliefs und Stuck im großen Stil zerstört.