Aufspüren, was die Zeit zu bieten hat
Autor Karl-Markus Gauß spricht im TT-Interview über glückliche Tage, die Katastrophen der Nullerjahre und den Heißhunger auf TV-Müll.
„Ruhm am Nachmittag“ ist der vierte Teil Ihres Journals. Welche Funktion hat das Schreiben von Journalen für Sie?
Karl-Markus Gauß: Indem ich mir täglich notiere, was mir an der Welt, wie sie auf mich einstürmt, auffällt, versuche ich mich als Subjekt zu behaupten, das ist von existentieller Bedeutung. Das heißt, ich hege den hochmütigen Gedanken, dass es mir möglich ist, die Dinge des Lebens, die politischen, sozialen, alltäglichen, privaten, in einen Zusammenhang für mich selbst zu bringen. Mir einen Ort zu finden, von dem aus ich meine Zeit und mich inmitten von ihr betrachten kann.
Ihre Journale sind eine Chronik der Nullerjahre. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Gauß: Es ist nicht leicht, einem Jahrzehnt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das auch politisch nicht ganz zu Unrecht als „Nullerjahre“ bezeichnet wird. Aber es gehört zum Faszinierenden von Journalen, dass sich die Widersprüchlichkeit benennen lässt, ohne dass man sie auf einen Begriff bringen, die Dinge zur Klärung bringen müsste. Für jeden von uns waren das ja nicht nur zehn Jahre, die man mit Terror und Krieg gegen den Terror, Finanzspekulantentum und Rettungsschirm verbindet, sondern es waren auch Jahre unseres eigenen Lebens. Wir werden sie kein zweites Mal wieder haben. Und ich möchte mir die Jahrzehnte meines Lebens nicht völlig durch Politik verpfuschen lassen, sondern darauf beharren, dass ich auch in diesen Jahren glückliche Tage, beseligende Erlebnisse, leuch- tende Erfahrungen hatte.
„Das, was ich schreibe, erschafft mich, nicht umgekehrt“, notierte Sándor Márais in seinem Tagebuch ...
Gauß: Das trifft tatsächlich so genau auf mich zu. Beim Verfassen eines Journals muss man aus einer unüberschaubaren Fülle an Material auswählen: Was sieht, liest, fühlt, denkt man sich nicht jeden Tag, von wie vielem und einander Widersprechendem hört man nicht in den Medien, aber auch auf der Straße? Meine Journale sind komponierte Texte. Ich muss von dem, was ich mir notiere, das auswählen, was mir am Ende wirklich wichtig erscheint, und ich muss es mit dem anderen, das ich gelten lasse, in Zusammenhang bringen. Da entdecke ich erst im Fortgang des Schreibens geheime Verbindungen und auf diese Weise bin ich nicht nur der Chronist eines bestimmten Jahres, sondern immer auch wieder der Erfinder meines Lebens.
Die zeitgeistige Variante des Tagebuchschreibens ist das Bloggen. Könnten Sie sich vorstellen, dass zukünftige Journale im Netz entstehen?
Gauß: Das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht aus kulturpessimistischem Dünkel, der mich zwänge, mich über derlei Niedrigkeiten erhaben zu fühlen. Aber ich bin ein Autor des alten Mediums Buch, jede Seite, die erscheint, habe ich unzählige Male überarbeitet, umgestellt, in neue Zusammenhänge eingeordnet. Beim Bloggen geht es darum, mit Schnelligkeit auf vermeintlich wichtige Dinge zu reagieren, und nicht darum, etwas zu schreiben, das über die geistige Verfassung des Tages hinausgeht. Ich verspüre keinerlei Drang, der Mitwelt ein tägliches Bulletin zu übergeben.
Eines der Themen, die sich durch das Buch ziehen, ist die Finanzkrise. Sie gehen mit den Akteuren der Finanzwelt hart ins Gericht ...
Gauß: Die Krise hat die Welt verändert, die Auswirkungen sind negativ bis in jene Schichten zu spüren, die nicht gerade zu politischer Radikalisierung neigen, also den Mittelschichten. Ich glaube auch, dass vielen klar geworden ist, auf wie dünnem Boden wir stehen und wie viel Fiktionalität zum Funktionieren unserer Realität dazugehört. Ein Bankier hat auf meine Frage, wohin denn das ganze Geld verschwunden sei, das „verbrannt“ wurde, geantwortet, er habe keine Ahnung, vermute aber, dass das Geld nie real vorhanden war. Die Spekulanten spekulieren mit Fiktionen, die allerdings sehr reale Auswirkungen haben.
Wie sehen Sie die Gegenbewegungen zur Krise, Occupy zum Beispiel?
Gauß: Es ist sicher notwendig, neue Formen des Protests zu finden. Ich hoffe, dass die Occupy-Bewegung längeren Atem hat und sich nach und nach bei jenen durchsetzen wird, die sie ja auf ihren Transparenten für sich beansprucht, bei den 99 Prozent. Andrerseits gibt es eine Form von Verdrossenheit, der die Wut auf „die Politiker“ schon genug ist. Und es gibt z.B. „die Piraten“, bei denen noch völlig unentschieden ist, wofür sie stehen: für eine libertäre Zivilgesellschaft oder für das neue digitale Spießertum. Wenn man sich anhört, was manche ihrer Wortführer zwischen Berlin und Bozen von sich geben, dann kann ich leider nicht ausschließen, dass sich das Zweite durchsetzt.
„Ruhm am Nachmittag“ bezieht sich auf das TV-Programm am Nachmittag. Warum schauen Sie sich diesen Schrott an??
Gauß: Ich kann mir das anschauen, weil Schriftsteller ein wunderbarer Beruf ist. Ich sehe mir diesen Mist an, nach dem mich alle paar Tage ein ungeheurer Appetit wie gelegentlich nach einem ungesunden Stück fetten Bratens befällt, und kann mich dabei noch gut fühlen, weil ich nur meine Pflicht tue: aufzuspüren, was unsere Zeit zu bieten hat.
Das Gespräch führte Joachim Leitner