Die Wunder des Kinos, um vom Leben zu erzählen
Valérie Donzelli beschreibt in ihrem zweiten Kinofilm „Das Leben gehört uns“ das größte Glück und den Schmerz einer Mutter.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Während Autoren von Filmen oder Romanen mit dem ersten Bild, dem ersten Satz einen Sog zu erzeugen versuchen, der Betrachter oder Leser in das nun Kommende hineinzieht, versucht Valérie Donzelli in ihrem zweiten Kinofilm „Das Leben gehört uns“ das genaue Gegenteil. Juliette (Valérie Donzelli) sitzt mit ihrem acht Jahre alten Sohn Adam im Wartezimmer eines Neurochirurgen. Irgendwann werden sie zum Eintritt aufgefordert, das Kind sucht die vertraute Hand der Mutter, unbestimmter kann ein Film gar nicht beginnen. Aber eine halbe Stunde später ist klar, ohne diese vagen Bilder am Anfang wäre dieser Film überhaupt nicht zu ertragen.
Juliette erinnert sich beim Gehen in das Arztzimmer an den Besuch einer Diskothek, in der sie sofort mit einem Mann Blickkontakt aufgenommen hat. Der wirft mit dem Blick eine Erdnuss zurück, die Juliette mit dem Mund auffängt. Der Werfer (Jérémie Elkaïm) stellt sich als Roméo vor, was Juliette für einen Scherz halten muss. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Abwechselnd erzählen Roméo und Juliette die Geschichte ihrer Liebe, einmal im dokumentarischen Stil von Jean-Luc Godard, dann wie in den Komödien von François Truffaut. Was sich sonst noch über die Liebe sagen lässt, wird gesungen wie in einem Filmmusical von Jacques Demy. Diese Flucht in die wunderbare Tradition des französischen Kinos, das über das größte Glück und den unerträglichsten Schmerz mit verblüffender Leichtigkeit erzählen kann, ist keine Stilunsicherheit oder Geschmacksverwirrung, sondern der Nähe zu den Ereignissen geschuldet. Juliette und Roméo erleben die Geburt ihres Sohnes Adam als Erfüllung ihrer Liebe, doch das Baby zehrt durch ständiges Schreien an ihren Nerven und ihrer Beziehung. Verzweifelt warten sie auf das erste Wort, das erste Schrittchen, stattdessen blicken die Eltern in ein asymmetrisches Kindergesicht. Die Computertomographie enthüllt einen bösartigen Gehirntumor. Der ist für Adams Behinderungen verantwortlich.
Die nächsten Jahre widmen Roméo und Juliette zur Gänze ihrem Sohn, der in einem sterilen Raum in der Klinik leben muss. Die beiden verkaufen ihre Wohnung und ziehen in das so genannte Elternhaus der Kinderstation. Der Isolation des Kindes folgt jene der Eltern. Sie meiden Verwandte und Freunde, um eine Infektion auszuschließen. Doch zwei Jahre später haben sie ihr Leben und ihre Liebe verbraucht. Die Geschichte von Roméo und Juliette und ihrem Sohn Adam ist in Wirklichkeit jene von Valérie Donzelli, Jérémie Elkaïm und deren Sohn Gabriel, der den achtjährigen Adam spielt. Es ist diese authentische Nähe, zu der Valérie Donzelli durch die Heiterkeit berühmter Filmzitate Distanz zu schaffen versucht.
Der Originaltitel „La Guerre est déclarée” bezieht sich auf die Koinzidenz der privaten Katastrophe mit dem Beginn des Irakkrieges. Als sich Juliette und Roméo eine neue Überlebensstrategie ausdenken müssen, fallen die ersten Bomben auf Bagdad und ein Kriegsberichterstatter sagt im Off diesen Satz: „Der Krieg ist erklärt.” Das übertragen die Liebenden auf ihre Situation.