Die Flucht vor der Scharia inmitten der Dürrekatastrophe
In Scharen laufen die Malier vor Putschisten und Rebellen davon. Viele sind nach Niger geflohen – dabei kämpft das Land selbst mit einer verheerenden Dürre.
Von Carola Frentzen, dpa
Niamey –„Die Soldaten haben einfach die Waffen weggeworfen und sind weggerannt.“ Lebhaft erinnert sich Nasarata Al Housseini an den Tag, als die Rebellen über ihr Dorf in Nord-Mali herfielen. „Ich habe Schüsse gehört, ich habe Menschen sterben sehen, ich habe furchtbare Dinge beobachtet“, sagt sie und zieht sich ihr blaues Kopftuch tiefer ins Gesicht. Fünf Kinder hat Nasarata und alle sind krank, leiden unter Husten und Unterernährung. Im Arm hält sie ein Baby und unternimmt einen weiteren Versuch, das Mädchen zu stillen. Aber Muttermilch hat sie nicht mehr, dafür ist Nasarata selbst zu schwach. Schon vor Wochen ist sie mit ihrem Mann Mohamed Hamadou aus der Region Menaka ins Nachbarland Niger geflohen. Eine Woche waren sie unterwegs, teilweise auf Eselsrücken. Zwei Kühe und 20 Schafe haben sie an der Grenze zurückgelassen. Nun lebt die Familie in einem provisorischen Flüchtlingscamp in der Nähe des Dorfes Maingaize und schläft unter einer blauen Zeltplane mit der Aufschrift „Unicef“.
Als im März kurz nach dem Putsch in der malischen Hauptstadt Bamako und dem darauffolgenden Vorrücken der Tuareg im Norden des Landes die ersten Flüchtlinge in Niger eintrafen, war niemand so recht darauf vorbereitet. Lager gab es nicht. Und die Menschen in Niger kämpften zu diesem Zeitpunkt selbst schon seit Monaten mit einer schweren Dürre und einer drohenden Hungerkatastrophe.
Als der Flüchtlingsstrom nicht abriss, kamen die internationalen Hilfsorganisationen. Ärzte ohne Grenzen grub einen Brunnen, das UNO-Flüchtlingskommissariat verteilte Küchenutensilien, Unicef stellte Plastikplanen bereit und das Welternährungsprogramm WFP gibt einmal pro Monat Mais, Reis, Bohnen und Öl aus. Oxfam, World Vision, Plan Niger und einige arabische Organisationen sind ebenfalls aktiv. Mehr als 3600 Menschen sind allein in diesem Camp eingetroffen. Zwei Drittel sind Malier, ein Drittel sind Nigrer, die wegen der Unruhen in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Die Geschichten der Menschen hier ähneln sich – und doch steht hinter jeder Erzählung ein Einzelschicksal. Das Trauma des Erlebten und die Angst vor der Zukunft stehen den meisten deutlich ins Gesicht geschrieben.
Aramotoufaye Aliou ist seit dem 5. April auf der Flucht. Ihr Mann, ein wohlhabender Händler, blieb in Mali. Sie stammte aus Gao, einer Stadt, die die Rebellen ebenso wie die anderen strategisch wichtigen Städte Kidal und Timbuktu Ende März im Sturm eroberten, nachdem sich das verunsicherte malische Militär zurückgezogen hatte. Ziel der Tuareg-Kämpfer ist es, im Norden einen eigenen Staat mit dem Namen Azawad zu bilden. Unterstützt wurden sie von islamistischen Splittergruppen, die prompt in den Städten das islamische Recht eingeführt haben – sehr zum Missfallen der meisten Tuareg.
Wegen der unübersichtlichen Lage wissen die meisten gar nicht, vor wem sie da eigentlich davongelaufen sind. Sie wissen nur, dass die Rebellen sie mit Gewalt daran hindern wollten, das Land zu verlassen. Aber wer waren die Täter, die auf offener Straße Menschen ermordeten und Frauen belästigten? „Hellhäutig“ seien sie gewesen, so lautet einstimmig der Tenor. „Ich habe keine Ahnung, wer die Leute sind, aber ich habe gesehen, wie sie Mädchen und Frauen vergewaltigt und den Bewohnern ihr Eigentum gestohlen haben“, erzählt Aliou. „In Gao gilt jetzt die Scharia: Die Frauen dürfen nicht einmal mehr anziehen, was sie wollen, und sollen alle ein schwarzes Tuch auf dem Kopf tragen“, erzählt sie.
Die Mutter von drei Kindern ist hingegen in einen pinkfarbenen Sari gehüllt und bringt Farbe ins staubige Lagerleben. In den nächsten Wochen soll hier ein Flüchtlingslager entstehen, mit Zelten, organisierten Lebensmittelverteilungen, Hygiene- und Gesundheitseinrichtungen und einer Schule. Denn wie lange die Malier bleiben werden, ist unklar. Aber den Traum, in die Heimat zurückzukehren, haben sie alle.