Gesundheit

Aus Mangel an Beweisen

Nicht immer werden Patienten auf Basis wissenschaftlich beweisbarer Daten therapiert. Dies kann an fehlenden Studien und Manipulation liegen, sagt Andrea Siebenhofer-Kroitzsch.

Innsbruck –Evidenzbasierte Medizin, kurz EdM. Das heißt, Patienten individuell auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu umsorgen. Die Sprecherin des österreichischen EdM-Netzwerks, Andrea Siebenhofer-Kroitzsch, vergleicht diese Art der Medizin mit den Aufgaben des Konsumentenschutzvereins, nur eben im Gesundheitsbereich. Warum es dennoch viele Skeptiker gibt, erklärt die Grazer Internistin im TT-Interview.

Die bestmögliche, beweisbare Medizin und Information für den Patienten. Klingt eigentlich nach einer Selbstverständlichkeit. Warum kommt EbM trotzdem nicht überall zum Einsatz?

Siebenhofer-Kroitzsch: Ein Beispiel ist, dass Patienten Faktoren wie Zeit, Wertschätzung, Aufklärung besonders wichtig sind. Das Problem ist jedoch, dass Ärzte häufig einen anderen Schwerpunkt setzen und traditionell die Behandlung für den Patienten übernehmen. EbM erfordert aber eine Demokratisierung des Wissens und den Austausch und die gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Patienten, was für einige Ärzte noch schwierig umzusetzen ist.

Es wird außerdem bekrittelt, dass oftmals wissenschaftliche Studien fehlen.

Siebenhofer-Kroitzsch: Um z. B. eine Empfehlung für ein Medikament abgeben zu können, ist es wichtig, zu wissen, welchen Nutzen man davon ableiten kann. Hierfür müssen geeignete Studien durchgeführt werden, die leider oft fehlen. Bei der Zulassung eines Medikaments wird z. B. lediglich geprüft, ob das Medikament wirksam ist. Es ist allerdings kein Nachweis eines Langzeitnutzens erforderlich. Die Firmen werden einen Teufel tun, solche Studien nach Zulassung noch durchzuführen, wo herauskommen könnte, dass das Produkt weniger innovativ ist als zuvor beworben. Ein weiterer Grund, warum oft zu wenige Studien vorhanden sind, um Empfehlungen auszusprechen, ist, dass Studienpatienten oft gar nicht der eigentlichen Zielgruppe entsprechen (z. B. weil sie zu jung sind, Anm.)

Inwieweit spielt Manipulation und Pharmasponsoring eine Rolle? Kommt es vor, dass das Medikament zwar dem Arzt passt, aber nicht zum Patienten?

Siebenhofer-Kroitzsch: Geld regiert die Welt und so ist es auch im Gesundheitsbereich. Manipulation in der Medizin gehört zum Alltag, aber man muss sich nicht alles aufschwatzen lassen. Zum Glück gibt es bereits eine Zahl von Ärzten, die z. B. Werbebotschaften bestimmter Medikamente in ihren Praxen nicht mehr aufliegen haben und vor ein paar Jahren wurde sogar ein Verein der unbestechlichen Ärzte gegründet, der bezeichnenderweise „mezis“ (mein Essen zahl ich selbst) heißt.

Manche Patienten klagen, sie fühlen sich nicht richtig aufgeklärt. Wie wichtig ist es, den Patienten über die Behandlung oder Nicht-Behandlung zu informieren? Wird dem Gespräch in Zeiten der Personalknappheit zu wenig Zeit eingeräumt?

Siebenhofer-Kroitzsch: Jeder Patient hat ein Recht auf eine ausgewogene und ehrliche Aufklärung und es ist unsere Pflicht als Ärzte, sich diese Zeit zu nehmen. Patienten werden zunehmend mündiger, sie wollen keine Geschichtln mehr hören und schauen schon einmal selbst im Internet nach und konfrontieren Ärzte mit ihrem Wissen. Manche Ärzte freut dies, andere weniger, aber auf die geänderten Zeiten sollten wir uns einstellen.

Für Patienten selbst ist es wichtig, zu wissen, dass sie klar von qualitativ hochwertiger Information und jener mit häufig versteckter Werbebotschaft unterscheiden müssen. Eine Checkliste kann gute Hilfestellung liefern (Info: www.discern.de).

Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem durch EbM medizinische Irrtümer ausgeräumt wurden?

Siebenhofer-Kroitzsch: Es gab und gibt zahlreiche Studien, wo man sich auf die Wirksamkeit eines Medikaments verlassen hat, ohne auf den Nutzen für den Patienten zu achten. Ein anschauliches Beispiel war die über Jahrzehnte durchgeführte Therapie mit einem Medikament gegen Herzrhythmusstörungen (Antiarrhythmikum).

Erst nachdem eine Studie durchgeführt wurde, wo die Patienten nach dem Zufalls­prinzip entweder das Antiarrhythmikum oder ein Placebo erhielten und weder Arzt noch Patient wussten, welches Medikament sie eingenommen hatten (randomisierte doppelblinde Studie) wusste man, dass zwar die Rhythmusstörungen verschwanden, aber dieses Medikament das Risiko für einen plötzlichen Herztod verdoppelte. Man kann also aus Beobachtungsstudien keine kausalen Zusammenhänge ableiten. Daher müssen, wann immer möglich, solche randomisierten Studien durchgeführt werden.

Wird EbM bei uns gelehrt und warum gibt es immer noch viele Skeptiker?

Siebenhofer-Kroitzsch: Die medizinischen Universitäten sind in Österreich zwar unterschiedlich strukturiert, aber EbM wird überall mehr oder weniger angeboten. Die Kunst besteht darin, den Studenten EbM schmackhaft zu machen und anhand konkreter Patientenfälle die Methodik der EbM zu vermitteln.

Es ist ja immer noch so, dass manche Ärzte Vorbehalte gegenüber EbM haben, weil sie meinen, dadurch würde ihnen etwas weggenommen oder sie müssten eine Art Kochbuchrezeptmedizin anwenden. In Wirklichkeit ist EbM ein wertvolles Instrument. Es schützt den Patienten und es schützt den Arzt, wenn man weiß, was man tut.

Das Interview führte Nicole Unger