Wander-Tipp

Zum dunklen Herrgott

Die Geschichte ist ständiger Begleiter bei der Wanderung auf das Latzfonser Kreuz über Klausen in Südtirol. Auf 2300 Metern Höhe kehrt man zuerst in die Kirche ein.

Von Irene Rapp

Latzfons –Die Aussicht müsste traumhaft sein: Rosengarten, Marmolata, Schlern, Langkofelgruppe. Doch hartnäckiger Nebel verhindert den Weitblick – und das, obwohl der Wetterdienst anderes prognostiziert hat. Kein Problem. So kann man sich leichter vorstellen, wie damals um 1700 alles seinen Lauf genommen hat. Damals, als Unwetter die Feldfrüchte der Bauern zerstörten, riet der Pfarrer den Latzfonsern, ein in der Totengruft gefundenes Kruzifix auf den Berg zu tragen. Laut Überlieferung soll der Herrgott immer wieder „nein, nein, da nicht“ gesagt haben. Am Fuß des Ritzlar (2528 m) war die Stimme nicht mehr zu hören, das Kreuz wurde aufgestellt.

312 Jahre später. Beim Aufstieg durch den Wald ist es bis auf das Gezwitscher der Vögel still, Eichhörnchen gibt es in Hülle und Fülle. Bei der Klausener Hütte geht der Wald in lichtes Almgelände über, eine Tafel ist Hinweis dafür, dass sich hier im Winter Skitourengeher tummeln. Und dann lichten sich kurz die Nebel und man sieht in der Ferne das Latzfonser Kreuz samt Schutzhaus – dem auf 2305 Meter höchstgelegenen Wallfahrtsort der Alpen. Denn nicht lange stand der heraufgetragene Herrgott unter freiem Himmel: 1743 wurde ein Kirchlein erbaut, 50 Jahre später ein einfaches Hospiz. Damals musste das Baumaterial noch heraufgetragen werden, von Mensch und Tier. Das lässt die eigene Anstrengung vergessen.

Vorbei an traumhaften Zirbenwäldern biegt man bei der Runggerer Saltnerhütte links ab, dann muss man einen Kessel ausgehen, bevor der letzte noch einmal ein wenig steiler werdende Anstieg ansteht: Wer auf diesen Metern Rast benötigt, hat oft Gelegenheit dazu: 15 Kreuzwegstationen laden zum Innehalten ein – auch, weil die originelle Machart ins Auge sticht. Die Stationen sind aus Lärchenstämmen herausgeschnitzt, minimalistisch, jedoch das Wesentliche der Botschaft andeutend.

Und dann hat man es geschafft und wenn man vor ihr steht, ist die Größe dieses auf dieser Höhe erbauten Gotteshauses beeindruckend: Im Inneren ist es trotz des Nebels ziemlich hell – allein, dort wo der Herrgott hängen sollte, befindet sich ein Foto davon.

Den Grund erzählt bei einem gutem Essen Wirtin Margareth. Jeden Winter wird das Kreuz als Schutz in die Kirche von Latzfons gebracht, heuer am 23. Juni wieder in einer Prozession heraufgetragen. Hans-Jörg Lunger, Ehemann von Margareth, ist auch für die Kirche verantwortlich. Dass er das gut macht, zeigt ein Brief links neben der Eingangstür. Darin bedankt sich Papst Benedikt XVI., dass das Kirchlein „stets würdig gehalten und mit frischem Blumenschmuck versehen ist“. Ein paar Meter weiter, in der gemütlichen Gaststube, hängt ein großes Foto von Tochter Tamara. Im Mai 2010 ist sie auf dem 8516 Meter hohen Lhotse gestanden. „Jetzt ist sie wieder auf Expedition und möchte auf den Muztagata sowie den Broad Peak“, sagt Hans-Jörg.

Das Wetter hat sich immer noch nicht verändert, die Wanderung auf die Kassianspitze wird daher gestrichen. Ein letzter Gang führt nach dem Abstieg noch in die Kirche des kleinen Dorfes Latzfons. Und gleich neben dem Hauptaltar hängt es: das Kruzifix, das demnächst wieder auf den Berg getragen wird.

Dunkelbraun ist der Gekreuzigte, zurückzuführen auf ein angebliches Gemisch aus Ochsenblut und flüssigem Baumpech, das das Holz im Freien weniger anfällig für Witterungseinflüsse machen sollte. Wie alt es wohl sein mag? Beim Verlassen der Kirche kann ich es dann kaum glauben: Der Himmel ist so gut wie wolkenfrei. Und in der Ferne kann man sogar das Latzfonser Kreuz erkennen.