Die Entwürdigung einer Seele
Sean Durkin hat für seine betörende Psychostudie „Martha Marcy May Marlene“ einen neuen Star entdeckt: Elizabeth Olsen zeigt als Sektenopfer magische Momente.
Von Peter Angerer
Innsbruck – In der Nacht zum 9. August 1969 ging die Hippie-Ära mit der Ermordung des Filmstars Sharon Tate und vier Freunden, die sich zufällig in der Villa von Roman Polanski aufhielten, blutig zu Ende. Die Mörder, hauptsächlich Frauen, gehörten zur Hippie-Kommune von Charles Manson, eines kleingewachsenen Mannes, der einmal Christus und dann wieder Satan sein wollte und der seine meist weiblichen Anhänger durch Drohungen und absurde Heilsversprechen unterwarf. Der Rockpoet Ed Sanders hat über diesen wegen der Brutalität des Killerkommandos weltweit aufsehenerregenden Kriminalfall die Reportage „The Family – Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy Streitmacht“ geschrieben, die Sean Durkin für „Martha Marcy May Marlene“, sein Debüt als Drehbuchautor und Regisseur, sehr genau gelesen hat. Aus Respekt vor Polanski und seiner Familie wurde die Vorlage nie verfilmt, auch Durkin bezieht sich nicht explizit auf den Fall, doch die Manson-Sekte ist das Modell für das Böse und den Kontrollverlust in Durkins Film.
Martha (Elizabeth Olsen) ist auf der Flucht. Nach zwei Jahren in der Landkommune von Patrick (John Hawkes) ist sie stumm geworden und gerade noch in der Lage, ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson) ein Ortsschild vorzulesen. Lucy musste sich schon immer um ihre jüngere Schwester kümmern und hat sich daran gewöhnt, keine Antworten zu bekommen. Vielleicht findet Martha im luxuriösen Sommerhaus, das Lucy und Ted (Hugh Dancy) lediglich zwei Wochen im Jahr bewohnen, etwas Ruhe und zu sich. Ted macht Marthas Apathie nervös, aber Lucy verliert schon die Nerven, wenn Martha vor dem Haus nackt in den See springt, hier sind schließlich Nachbarn und Kinder!
Wegen solcher Verhaltensregeln ist Martha (vielleicht) bei Patricks Sekte gelandet. Junge Frauen haben damals die Streunerin aufgelesen und ihr ein Leben in Freiheit versprochen. Martha wurde gewaschen und in weißes Leinen gepackt. Der Höhepunkt sollte die erste Nacht mit dem geheimnisvollen Patrick sein. Alle Frauen schwärmen von diesem nicht wiederholbaren Initiationsritus. Martha könnte anschließend Marcy heißen, doch Patrick findet, Martha sehe eher nach May Marlene aus. Als es so weit ist, erlebt Martha nicht viel mehr als eine Vergewaltigung. Nach Patrick gehören die Frauen auf dem Matratzenlager allen. Immerhin gibt es keine Verbote. Als Raucherin sollte Martha zuerst an ihren Körper denken.
Den Unterhalt verdient die Kommune mit Gartenprodukten und gelegentlichen Raubzügen. Zeugen werden getötet. Einmal nützt Martha einen günstigen Moment zur Flucht, doch die junge Frau ist längst zu einem Zombie geworden, der sich der Beobachtung durch die Sekte nicht mehr entziehen kann.
„Martha Marcy May Marlene“ ist eine betörende Studie über Entmündigung und Entwürdigung, doch es gibt Momente in diesem Film, in denen sich die Frage stellt, ob man Zeuge dieser Zerstörung sein möchte. Andererseits ist aber die Geburtsstunde eines Stars zu sehen. Elizabeth Olsen, die jüngere Schwester der Olsen-Zwillinge, bietet als somnambule Geisterwanderin durch ein verwirrendes Leben magische Momente.