CERN-Forscher im Interview

„Ohne Higgs-Teilchen würde rein gar nichts existieren“

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens wird in der Physik als großer Durchbruch gefeiert. Karsten Eggert erklärt im Gespräch mit TT.com warum die Aufregung gerechtfertigt ist und wie das CERN maßgeblich zur technologischen Weiterentwicklung der Menschheit beiträgt.

Herr Eggert, woher rührt die große Aufregung um dieses Higgs-Teilchen?

Karsten Eggert: Es ist in der Tat eine große Entdeckung des CERN. Zur Erklärung: In den Standardmodellen der Elementarteilchenphysik konnte bisher nicht genau herausgefunden werden, wie die Urbausteine der Materie - die Quarks - ihre Masse bekommen. Dafür verantwortlich ist eben das Higgs-Teilchen, welches - wie auch die Quarks - beim Urknall erzeugt wurde. Es ist der letzte wichtige Baustein, der im Standardmodell fehlte. 50 Jahre haben wir danach gesucht, jetzt haben wir es mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gefunden.

Daher auch die Bezeichnung „Gottesteilchen“?

Eggert: Ich halte dies für einen kompletten Fehlausdruck, die Presse braucht eben einen griffigen Namen. Aber klar, das Teilchen ist extrem wichtig. Der LHC-Teilchenbeschleuniger in Genf ist unter anderem dafür gebaut worden, es zu finden. Aber man hatte keine Ahnung bei welcher Masse es liegt, dies hat die Suche sehr erschwert. Man musste den ganzen möglichen Massenbereich absuchen. Schon Ende vorigen Jahres gab es erste Indizien für einen Durchbruch, aber man war sich noch nicht ganz sicher. An den Experimenten haben Tausende Wissenschafter und Techniker mitgewirkt.

Wie genau hängt das Higgs-Teilchen mit dem Urknall zusammen?

Eggert: Vor dem Urknall war eine riesige Energiedichte da, wo sie herkommt wissen wir nicht. Aus dieser Dichte sind alle Teilchen entstanden – Quarks, Anti-Quarks und eben auch das Higgs-Teilchen. Das Feld dieses Teilchens hat allen anderen Teilchen ihre Masse gegeben.

Nach dem Urknall gab es gleich viel Materie und Antimaterie, die sich durch die sogenannte Annihilation wieder zur Strahlung vernichten hätte müssen. Wir haben jedoch festgestellt, dass die Materie sich etwas anders verhält als die Anti-Materie. Dieser minimale Unterschied hat dazu geführt, dass sich nicht alles verstrahlt hat, sondern ein bisschen übrig geblieben ist. Und dieses bisschen ist letztlich das, was wir als Universum kennen. Wenn das Higgs-Teilchen nicht da wäre, wäre alles ohne Masse gewesen. Also würde rein gar nichts von dem was wir kennen heute existieren, vermutlich nicht einmal der Weltraum. Es würde nur Strahlung existieren, das wäre ein ganz anderes Universum.

Unter Physikern wird die Higgs-Entdeckung als Durchbruch gefeiert. Was bringt es aber der Menschheit, also dem einfachen Bürger, konkret?

Eggert: Naja, wir wollen doch wissen, wie das Universum entstanden ist und damit vor allem was beim Urknall geschah. Was der Bürger davon hat oder haben wird, ist nie zu beantworten, wenn gerade eine Entdeckung gemacht wurde. Beispielsweise wurden Anfang des vorigen Jahrhunderts bei Versuchen Photonen auf Metalloberflächen geschickt. Dabei wurde festgestellt, dass ein Elektron freigesetzt wird. Der einfache Bürger hatte davon zunächst nichts. Aber schließlich wurde aufgrund dieser Entdeckung der Transistor entwickelt, ohne den der Alltag heute ganz anders aussehen würde. Computer würden nicht in dieser Form existieren.

Also könnten auch durch die Entdeckung des Higgs-Teilchens solche Erfindungen gemacht werden?

Eggert: Das möchte ich jetzt nicht behaupten. Sehr wohl kann aber das Verständnis dieser Theorie sehr wichtig werden für technologische Anwendungen. Wie gesagt: Ein Wissenschafter der eine Entdeckung auf diesem Feld macht, ist nie in der Lage sofort zu sagen, wie sich dies auswirken wird.

Eine indirekte Auswirkung des CERN ist auch die Weiterentwicklung der globalen Vernetzung, weil die Tausenden Physiker klarerweise nicht immer vor Ort sein können. Daraus ist letztlich auch das World Wide Web entstanden, wie wir es heute kennen. Die Grundlagen des WWW wurden im CERN aufgebaut. Ein weiteres Beispiel sind die Supraleitungen, die im LHC verwendet werden, um hochenergetische Protonen auf eine Teilchenbahn zu zwingen. Diese haben mittlerweile viele tägliche Anwendungen im Transport von Energien. Die Investitionen im CERN, die im Durchschnitt eine Milliarde Schweizer Franken pro Jahr betragen, tragen also viel zur technologischen Entwicklung der Welt bei.

Seit wann läuft der Teilchenbeschleuniger LHC eigentlich rund? Es gab ja viele Probleme.

Eggert: Ja, das stimmt. Vor drei Jahren stand der Beschleuniger für längere Zeit still. Seit der Wiederinbetriebnahme 2009 bis heute haben wir die Intensität des LHC um mehr als das tausendfache erhöht. Hunderte von Technikern und Wissenschafter halten dieses Wunderwerk seither am Laufen. Es war ein enormes technologisches Problem, einen solchen Teilchenbeschleuniger zu bauen. Dazu mussten die Protonen auf eine Kreisbahn im Umfang von 30 Kilometern gezwungen werden. Dann wurden die Strahlen aufeinander fokussiert, um Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen zu lassen. Der Energieverbrauch des CERN ist vergleichbar mit jenem der Stadt Genf.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es Spekulationen, dass im CERN künstliche schwarze Löcher erzeugt werden könnten, die in der Lage wären alles auf der Welt zu „verschlucken“. Wie sehen Sie das?

Eggert: Das ist kompletter Blödsinn. Dass wir bald Mini-Schwarze-Löcher produzieren, könnte sein. Das wäre sogar eine wissenschaftliche Entdeckung, die wir suchen. Aber, dass wir schwarze Löcher erzeugen, die wie im Weltraum alles verschlucken, kann nicht sein. In der kosmischen Strahlung, der wir täglich ausgesetzt sind, gibt es viel höhere Energien, als wir im CERN herstellen. Trotzdem ist daraus nie ein schwarzes Loch entstanden, das uns verschlingen hätte können. Aber es gibt immer Wissenschafter, die etwas ängstlich sind, sich aber auch einen Namen damit machen wollen. Wenn man etwas spektakulär aufbauscht wird man vielleicht bekannter.

Zurück zum Higgs-Teilchen. Wie geht die Forschung in diesem Bereich jetzt weiter?

Eggert: Als erstes müssen wir feststellen, dass es wirklich das Higgs ist. Aber es sieht stark danach aus. Dann ist die Frage: Gibt es nur ein Higgs oder gibt es mehrere? Wahrscheinlich existieren fünf verschiedene Higgs-Teilchen. Weiters werden wir jetzt Jahre damit zubringen herauszufinden, wie das Higgs wirklich aussieht. Jetzt geht es erst richtig los und die nächsten Jahre werden sehr spannend. Ich prophezeihe noch viele neue Erkenntnisse. Zudem fehlt uns immer noch etwas ganz Wesentliches. Es gibt sehr überzeugende Theorien, dass es zu unserer Welt eine supersymmetrische Welt geben muss. Quasi ein Spiegelteilchen für jedes Teilchen. Die Supersymmetrie könnte erklären, warum Materie wieder verschwindet. Es wäre eine gute Erklärung für die fehlende Masse im Universum. Denn was zu sehen ist, sind nur rund vier Prozent des großen Ganzen.

Das Gespräch führte Simon Hackspiel