Die erfrorenen Schmetterlinge vom Manaslu
Vierzig Jahre nach der Erstbesteigung der Manaslu-Südwand erinnern sich die Überlebenden auf der Franz-Senn-Hütte im Stubai.
Von Kurt Arbeiter
Innsbruck – Im Frühjahr 1972 bezwingen einige der besten Bergsteiger Tirols die Südwand des 8163 Meter hohen Manaslu im Himalaja. Zwei von ihnen finden den Tod.
Vierzig Jahre danach erinnern sich die Bergkameraden: „Alles, was wir von dieser Wand gewusst haben, war, dass sie offenbar ziemlich steil abfiel“, sagt Reinhold Messner.
Lachen in der Runde, die an der sonnenwarmen Steinwand der Franz-Senn-Hütte zusammensitzt. Wilde Hund‘ sind sie damals gewesen.
„Zwölf Stunden lang sind wir nur dagesessen und haben die Eislawinen beobachtet“, sagt Horst Fankhauser.
Und dann fanden sie einen Weg: über einen überhängenden Felspfeiler und weiter durch ein Labyrinth aus Gletscherspalten und Eistürmen, das sie „Schmetterlingstal“ nannten. „Warum eigentlich Schmetterlingstal?“, fragt Klara, Horsts Frau, als sie den Männern Wein nachschenkt. Man hat sich inzwischen in die gemütliche Stube der Hütte zurückgezogen. „Wir haben dort Schmetterlinge gesehen“, antwortet Messner. „Ein Sturm muss sie da hinaufgetragen haben, auf über 6000 Meter Höhe.“ Er macht eine kleine Pause. „Und da sind sie alle erfroren.“ Es scheint ein wenig kühler zu werden in der Stube, denn alle wissen: Nach der Durchquerung des Schmetterlingstals kam der Tod am Manaslu. Reinhold Messner und Franz Jäger brechen als Spitzentrupp zum Gipfel auf. Auf halbem Weg gibt Jäger auf. Er kehrt um und verspricht, im Lager IV, einem Zelt auf 7400 Metern Höhe, auf Messner zu warten. Messner erreicht den Gipfel allein.
Beim Abstieg bricht der Sturm los. Als er schließlich völlig erschöpft und halbblind das Zelt erreicht, erwartet ihn dort nicht Franz Jäger, sondern Horst Fankhauser, der mit Andi Schlick heraufgekommen ist, um die Gipfelstürmer in Empfang zu nehmen.
Messner ist wie vor den Kopf geschlagen. „Du hast mich Franz genannt“, erinnert sich Fankhauser noch 40 Jahre danach. „Und ich hab‘ dir zweimal sagen müssen: Ich bin‘s, der Horst!“ „Das war ein schrecklicher Moment“, sagt Messner. „Als mir klar geworden ist: Der Franz ist nicht da. Der ist draußen im Sturm.“ Fankhauser und Schlick brechen auf, ihn zu suchen. „Ich hab ihn schreien gehört. Das ist immer noch in mir“, sagt Fankhauser. „Und dann sind wir da im Sturm herumgeirrt wie die Deppen.“
Schließlich verkriechen sie sich in einer Gletscherspalte. „In meinem Kopf habe ich immer noch einen riesigen Mond vor mir, an dem Wolkenfetzen vorbeirasen“, sagt Fankhauser. Irgendwann hält Andi Schlick es nicht mehr aus. Er wankt hinaus unter den eisigen Mond – Fankhauser kann ihn nicht zurückhalten – und verschwindet für immer. „Der Tod unserer beiden Kameraden ist eine erlebte Tatsache“, sagt Messner. Es klingt kalt. „In schrecklicher Intensität erlebt“, fügt er dann hinzu. In seinem zerfurchten Gesicht arbeitet es. „Manchmal sehe ich sie vor mir. So wie sie damals waren. Sie sind nicht gealtert – wie wir.“
Die Falten in den Gesichtern der beinah 70-Jährigen treten stärker hervor, als sie sich über ein großes Satellitenfoto beugen, das das Gipfelplateau des Manaslu zeigt. „Irgendwo da müssen der Franz und der Andi liegen“, sagt Fankhauser. Für einen Moment tritt Stille ein. Dann die gelassene Stimme von Oswald Oelz, dem damaligen Expeditionsarzt: „Eigentlich muss man schon einen Kopfschuss haben, in so eine blödsinnige Wand einzusteigen.“ Zuerst sagt keiner was. Dann bricht Horst Fankhausers trockene Antwort das Eis: „Da kann ich dir nicht widersprechen, mein lieber Freund Oswald.“ „Reinhold“, sagt Oelz schmunzelnd zu Messner, „deine Finger waren erfroren, und Horst: Dein großer Zeh hat auch nicht gerade komfortabel ausgesehen.“
Fankhauser lacht. „Ich hab mir die Kappe von meinem Bergschuh abschneiden müssen, um mit dem aufgequollenen Trum überhaupt hinuntersteigen zu können.“ „Und als wir endlich unten waren, haben wir getrunken“, wirft Hansjörg Hochfilzer ein.
Die Männer in der Stube heben die Gläser. „Freunde!“, ruft Wolfgang Nairz, der Expeditionsleiter. „Zum 50. Jahrestag könnten wir noch einmal hinaufsteigen zum alten Basislager, was haltet ihr davon?“ „Warum sollten wir da nicht gleich noch einmal den Pfeiler versuchen?“, fragt Fankhauser unternehmungslustig. „Weil wir dann auf die 80 zugehen“, kommentiert Messner erbarmungslos. Kurze Nachdenkpause.
„Na gut“, sagt Wolfgang Nairz, „dann gehen wir halt schon nächstes Jahr.“