Literatur

In der besten aller Welten

Mit ihrem neuen Roman „Vielen Dank für das Leben“ liefert Sibylle Berg eine schrille Satire über den Niedergang der Konsumwelt und die düsteren Aussichten ab.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Ohne sich zeitlich zwischen 2010 und 2030 genau festzulegen, entwirft Sibylle Berg am Ende ihres neuen Romans „Vielen Dank für das Leben“ eine Utopie. Die Herrscher leben auf schwimmenden Inseln, Ausländer wohnen in umgebauten Parkhäusern, es gibt keine Kriege mehr, „weil die Menschen mit dem Flicken der Erdoberfläche beschäftigt waren, und dass es nichts mehr gab, worauf man neidisch sein konnte, ehrlich gesagt, das hat sich doch keiner vorstellen können“. Und Humor gibt es nicht mehr, „wie alles Unnütze“. Dazu gehören auch Bücher. Aber wie hat alles angefangen?

Für diese Reise in die beste aller Welten, in die vollkommene Konsumwelt, hat Sibylle Berg eine grandiose allegorische Figur erfunden, empfindsam wie der Elefantenmensch, naiv wie Voltaires Candide, vor allem aber ist es – ein Freak. Seine Umwelt sieht ihn als „mongolischen Transvestiten“, bei manchen geht er als Buddha durch.

Toto kommt 1966 „im Ostteil des in Gut und Böse geteilten Landes“ ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt und weil der Chefarzt Dr. Wagenbach nur sagt, „es ist ein Nichts“, steckt die Mutter dieses Nichts als Buben in einen Rucksack und geht erst einmal ihrer Beschäftigung als Trinkerin und Altenpflegerin nach. Monate später wird Toto in einem Waisenhaus abgegeben. In fünf Jahren wird die Mutter „an einem Makrelenbrot ersticken“. Da ist Toto wegen seiner Anomalie bereits das einsamste Heimkind, das in Kasimir einen Freund zu erkennen glaubt. Das ist jedoch ein Irrtum, denn Kasimir ekelt sich vor dem Zwitterwesen. Er wird später ein Vermögen darauf verwenden, Toto, „das Gute“, zu vernichten, „damit ich im Recht bleibe“.

Alle Kapitel, die von Toto erzählen, tragen die Überschrift „Und weiter“, das heißt, es geht um (auch vergnügliches) Tempo. Toto, der nur noch „Teil dieser hässlichen Umgebung sein“ möchte, leidet am sozialistischen Erziehungssystem, wird verkauft, muss als Sklave auf einem heruntergekommenen Hof arbeiten. Er wird Zeuge – später Zeugin – von Vergewaltigung, Mord und Totschlag, aber auch selbst Opfer von Gewalt und Demütigung. Toto entdeckt zum Trost jedoch sein absolutes Gehör und seine Singstimme, mit der er bei entsprechender Ausbildung berühmt werden könnte. Der Westen entpuppt sich – nach der Flucht – als leeres Versprechen. „In seiner kommunistischen Jugend war kein großes Aufhebens um Geschlechter und ihre Rollen gemacht worden. Waren die Eltern weder Intellektuelle oder anderweitig Staatsfeinde, gab es für alle gleiche Chancen auf ein wunderbar erfülltes volkseigenes Leben im Arbeiter- und Bauernstaat. Hier im Kapitalismus schien die Frage nach den Rollen von Mann und Frau von einer außerordentlichen Wichtigkeit. Es schien, als müsse man, um seine Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter zu demonstrieren, gezieltes Kaufverhalten entwickeln. Die Frauen müssen sich Brüste kaufen, unbedingt, und an jeder Nachttankstelle müssen die erhältlich sein.“ Nur für Toto gibt es nichts zu kaufen. Er vertraut auf Sozialhilfe und den Zufall. Doch der „Kapitän Zufall“ ist der zum Spekulanten und Sadomasochisten gewordene Kasimir, der jeden Schritt Totos lenkt.

Sibylle Berg, geboren 1962 in Weimar, die 1984 die DDR verlassen konnte und daher den real existierenden Sozialismus ebenso kennt wie die „real gescheiterten Alternativen“. Lakonisch kommentiert sie die Gesetze der Ökonomie, schüttet Hohn und Spott auf die Ideologie des Wachstums, mit verwunderter Empathie begleitet sie den Leidensweg Totos, der sich nicht beklagt, sondern bedankt. „Die Menschen hatten sich ergeben, wussten nur nicht, wem.“ Es ist die reine Wahrheit im schrillen Kostüm der Satire.