„Militärrat sieht in Muslimbrüdern eine illegale Organisation“
Ägypten-Experte Adel El-Sayed erklärt, was die Wahl Mursis für die Zukunft des Landes bedeutet, warum die Furcht vor einer Islamisierung unbegründet ist und inwiefern der Sturz Mubaraks für ihn persönlich eine Befreiung bedeutete.
Herr El-Sayed, was bedeutet die Wahl Mursis für die Zukunft Ägyptens?
Adel El-Sayed: Mursi war für viele Ägypter und auch für mich die beste Lösung, um einen Ausweg aus der politischen Krise zu finden. Die Ägypter standen vor zwei Möglichkeiten. Entweder Shafik, der Anhänger Mubaraks und Militärratsverbündete, oder Mursi mit einer riesigen Allianz, die viele Elemente der Revolutionsbewegung mit einschließt. Nun siegte Mursi, ein Vertreter des neuen Trends der Muslimbrüder und er ging unerwartet viele Kompromisse ein. Ein paar Tage vor der Bekanntgabe des Wahlergebnisses, traf sich Mursi mit mehreren Fraktionen der Revolutionäre und kündigte eine Zusammenarbeit an.
Vor allem westliche Beobachter warnten nach dem Wahlsieg Mursis vor zunehmender Islamisierung. Ist dies berechtigt?
El-Sayed: Ich denke nicht. Die Muslimbrüder sind in Ägypten eine eher gemäßigte islamistische Kraft. Die radikalere Gruppierung sind die Salafisten, die bei der Wahl aber immerhin 28 Prozent erreichten. Diese stehen sogar im Konflikt mit den Muslimbrüdern. Der Sieg Mursis verdeutlicht also einen gemäßigten islamischen Trend.
Also denken Sie nicht, dass in der Gesellschaft nun Islamisierungsprozesse ausgelöst werden könnten?
El-Sayed: Nein, das erwarte ich nicht. Es gibt auch keine Indizien dafür. Die Muslimbrüder haben zwar einen riesigen Einfluss in der Gesellschaft, aber kaum Erfahrung um so einen Trend auszulösen - anders als die Schiiten im Iran oder die Hisbollah im Libanon. Sie befassten sich bisher stets mit dem Sozialen und weniger mit Politik. Sie waren es gewohnt oppositionell zu agieren, wie beispielsweise die Protestparteien in Europa. Aufgrund der mangelnden Führungsqualitäten müssen sie auch Personen mit politischer Qualifikation von außerhalb der Partei holen, um Ämter zu besetzen.
Glauben Sie, dass sich Mursi von den Fesseln des Militärrats befreien kann?
El-Sayed: Der Militärrat ist die bestorganisierte Institution des Landes und hat in dieser Auseinandersetzung eindeutig die Oberhand. Die Armee versucht, die Politik Mubaraks im Lande weiterzuführen, in allen anderen sieht sie rebellische Elemente. Für sie sind die Muslimbrüder immer noch eine illegale Organisation. In diesem Machtkampf geht es nun um einen Kompromiss zwischen Präsident und Militärrat, mit dem beide Seiten leben können.
Aber im Hintergrund bleibt der Militärrat als Schattenregierung?
El-Sayed: Das ist das Streitthema. Was bekommt die Armee, wenn sie einen Teil ihrer Macht abgibt? Friedlich will sie das eigentlich nicht, denn sie verfügt über ein Drittel der ägyptischen Wirtschaftskraft. Und die amerikanische Unterstützung von 1,3 Mrd. Dollar jährlich fließt in die Kassa der Armee. Das Militär ist ein Staat im Staat.
Was hält die Bevölkerung davon, dass der Militärrat die Macht nicht, oder nur zum Teil abgeben will?
El-Sayed: Diese ist ebenfalls gespalten. Mursi hat 53 Prozent der Stimmen erhalten, aber der Militärratsverbündete Shafik immerhin 47 Prozent. Die Wähler Shafiks waren jene, die Angst vor einer Islamisierung der Gesellschaft hatten. Das sind vor allem Kopten, Liberale oder Technokraten.
Demonstranten in Ägypten kritisieren, dass die USA die Wahl Mursis unterstützt hätten. Inwiefern ist dieser Vorwurf begründet?
El-Sayed: Washington kennt Mursi als ehemaligen politischen Aktivisten sehr gut. Er hat in den USA studiert und teilt westliche Werte. Seine Kinder sind amerikanische Staatsbürger. Seit den 80ern stehen die USA in Kontakt zu den Muslimbrüdern in Kairo und Alexandria. Mursis Wahl ist jedenfalls zum Wohle der amerikanischen Interessen im Nahen Osten. Die Sicherheit Israels und die Öllieferungen sind bei ihm in guten Händen. Ich nehme aber nicht an, dass die USA die Muslimbrüder bei der Wahl direkt unterstützt haben. Die Gelder sind vermutlich über Katar geflossen. Denn das kleine Emirat führt jetzt den amerikanischen Waggon im Nahen Osten.
Wobei Mursi ja auch Kontakt zur Hamas sucht …
El-Sayed: Dies würde ich eher unter Anführungszeichen stellen. Ich denke eher, Mursi will die Hamas zügeln und keinesfalls die radikale Komponente unterstützen. Die Hamas versucht ihrerseits die islamistische Annäherung zu Ägypten, die es aber nicht geben wird. Mursi teilt nicht die Ansichten der Hamasführer.
Also ist auch Israel glücklich mit Mursi als neuem Präsidenten?
El-Sayed: Nein, das ist wieder eine andere Sache. Mursi hat viel mit den Revolutionären zu tun, die wiederum kritisch zu Israel stehen. Die Muslimbrüder sind im Grunde für eine Überarbeitung des Camp-David-Abkommens (Anm. Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel, der auch eine Autonomie für die Palästinenser vorsah). Sie bringen dies derzeit aber nicht zur Sprache, um die Weltöffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Vermutlich tritt Mursi künftig aber stark für einen Staat Palästina auf. Das gehört zu seinen wichtigsten politischen Agenden.
Wie sehen Sie generell die aktuellen Entwicklungen nach dem arabischen Frühling? Es sind starke Islamisierungstendenzen zu bemerken …
El-Sayed: Dass der islamische Trend durch den Arabischen Frühling entstanden ist, glaube ich nicht. Dieser Trend schlummerte schon viel länger unter der Oberfläche und ist nun durch das Verschwinden der Langzeitregime in der Region wieder ausgebrochen. Zuvor wurden viele Islamisten als Unberührbare gesehen und verfolgt.
Was ich vor allem bemerkenswert finde ist, wie viele Jugendbewegungen die Revolution mitgebracht hat. Warum schauen wir immer nur auf die Endergebnisse von Wahlen und nicht darauf, welche unglaubliche Wirkung diese Bewegungen haben? Wir handeln mit dem arabischen Frühling immer noch oberflächlich. Bei der Präsidentschaftswahl in Ägypten haben wir gesehen, dass der Aktivist Hamdin Sabahi 4,8 Mio. Stimmen erhalten hat und der gemäßigte Kandidat Abdel Futuh 4 Mio. Unglaubliche 38 Prozent der Ägypter wählten damit Kandidaten aus der Protestbewegung. Die Revolution im arabischen Raum brachte also sehr viele unterschiedliche Elemente an die Oberfläche, darunter auch die Islamisten.
Glauben Sie, dass nun Stabilität in die Region einkehren kann?
El-Sayed: Ich war im April in Ägypten, der Suez-Kanal läuft perfekt, der Tourismus blüht wieder. Dasselbe gilt für Tunesien. Auch der Clinton-Besuch in Ägypten ist eine Anerkennung des Status Quo. Die Region gewinnt an Stabilität und steuert in Richtung Freiheit und soziale Gerechtigkeit. In Libyen bleibt jedoch das Problem der stark zersplitterten Stämme.
Doch mit Syrien hat der Nahe Osten sein neues Pulverfass …
El-Sayed: Dieser Konflikt beinhaltet leider ein Zerren zwischen Großmächten. Syrien ist die Enklave Russlands im Nahen Osten und die einzige Machtbasis am Mittelmeer, weshalb Assad von Putin unterstützt wird. Die Revolutionäre hingegen erhalten nur wenig Unterstützung aus dem Ausland. Sie sind nicht gut ausgerüstet für einen derartigen Krieg, sondern verfügen vorwiegend über leichte Waffen. Es ist noch immer ein Guerilla-Krieg, fast wie im Dschungel von Südamerika.
Es sieht aber trotzdem danach aus, als würde das Regime vor dem Kollaps stehen. Wie kann die Macht transformiert werden, sollte Assad gestürzt werden?
El-Sayed: Dass die Opposition nicht imstande ist auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, ist ein großes Problem. Also dürfte sich eine Transformationsphase lange hinziehen. Noch ist Assad zwar nicht gestürzt, seine Stärke schwindet aber von Tag zu Tag. Iran und Russland denken möglicherweise darüber nach, Assad fallen zu lassen. Das jüngste Attentat auf den inneren Machtzirkel und die immer häufiger werdenden Meldungen über hochrangige Überläufer zeigen, wie fragil und verletzlich das Regime geworden ist.
Noch einmal zurück nach Ägypten. Der ehemalige Mubarak-Stellvertreter und Geheimdienstleiter Omar Suleiman ist vor Kurzem verstorben. Sie haben ja sehr unangenehme Erinnerungen an diesen Mann …
El-Sayed: Ja, Suleiman hat sich 1993 intensiv mit mir beschäftigt. Ich hatte damals ein Stipendium für Israel, wohnte aber in Ägypten. Eines Tages holten mich seine Leute von zuhause ab. Sie warfen mir vor, für einen Geheimdienst zu arbeiten und fragten mich warum ich so engagiert bei der Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern in Europa sei. Erst nach zehn Tagen ließ Suleiman mich wieder frei. Am Ende wurde ich auf eine Schwarze Liste gesetzt und als ‚sicherheitsgefährdender Kommunist’ eingestuft. Ägyptische Spitzel in Österreich haben mich daraufhin weiter überwacht und dem Geheimdienst Woche für Woche Berichte geliefert. Es war ein richtiger Alptraum. Erst seit der Revolution letztes Jahr ist es vorbei – hoffentlich für immer.
Das Gespräch führte Simon Hackspiel