Ein Löffel vom Honig, der in Europa fließt
Was ist los mit Europa? Julya Rabinowich legt ihren unbequemen Roman „Die Erdfresserin“ vor.
Von Sabine Strobl
Innsbruck –Verschlungene Pfade führen Frauen Richtung Westen. Sie halten sich illegal in dem Teil Europas auf, wo der Honig fließt, um einen Löffel davon zu ergattern, schreibt Julya Rabinowich in ihrem eben erschienen Roman „Die Erdfresserin“. Gelegenheitsjobs und Prostitution aller Art bringen das Geld, das zu Hause so dringend gebraucht wird. Eine Woche Prag oder drei Tage Wien ergeben so viel Verdienst wie in Russland in einem Monat. Sofern es dort Arbeit gibt. Diana ist eine von diesen Frauen auf Wanderschaft, sie sorgt für ihre Mutter, ihre Schwester und ihren behinderten Sohn. Für Gefühlsduselei hat sie nichts übrig. Von „Gefühlen“ reden die Wiener, von „Verzweiflung“ die Psychiater, beides kann sich Diana nicht leisten. Sie will überleben.
Dabei gab es in dem Haus, in dem Diana aufwuchs, eine Bibliothek, doch der Vater verschwand bald. Diana träumte vom Theater. Im Kellerzimmer in Wien hatte sich dieser Traum bald ausgeträumt. Als Diana den schwerkranken Polizisten Leo kennen lernt, scheint sich ihre Situation zu normalisieren. Diana zieht bei ihm ein. Auch wenn sie selbst keine Heilige ist, wiegen die Kränkungen schwer. Leo erklärt den Nachbarn, sie sei eine günstige Putzfrau. Nach seinem Tod werden die Wohnungsschlüssel sofort ausgetauscht und Diana steht wieder vor der Tür. Sie wühlt sich in Erde ein und isst davon.
Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, kam 1977 nach Wien. Sie hat in psychologischen Einrichtungen als Simultandolmetscherin die Situation von Flüchtlingen kennen gelernt. Rabinowich weiß also, wovon sie schreibt. Nach ihrem Zusammenbruch wird Diana in der Psychiatrie behandelt. Daher auch die kurzen Therapiegespräche am Anfang der Kapitel. Eine Putzfrau mit Asyl verhilft Diana schließlich zur Flucht. Diana befiehlt dem Golem, Figur zahlreicher jüdischer Legenden, sie nach Hause zu leiten. Ein letztes Aufbegehren.
Für ihr fulminantes Debüt „Spaltkopf“ (2008) erhielt Rabinowich den Rauriser Literaturpreis. 2011 erschien ihr Buch „Herznovelle“. Wenn Rabinowichs Büchern etwas gemeinsam ist, dann exzentrische Frauenfiguren. Dazu gehört auch Diana, die bisweilen auch in der Groteske landet. So versperrt ihr der Trauerzug von Otto von Habsburg den Weg. Was ist los mit Europa? Julya Rabinowich ist im kommenden Bücherherbst nicht die einzige Autorin, die diese Frage aufwirft.
Julya Rabinowich.
Die Erdfresserin. Roman. Deuticke Verlag, 235 Seiten, 18,40 Euro.