Revolution für eine Heirat
Frustrierte junge Männer zetteln Revolutionen an und werfen sich vor Panzer. Was, wenn ihr Handeln nicht wirtschaftliche, politische oder soziale Überlegungen antreibt, sondern Hormone, fragt sich die Juristin Karin Kneissl.
Von Sabine Strobl
Nicht die „jungen Wölfe“ von der Wallstreet interessieren die Autorin Karin Kneissl. In den vergangenen Jahren wurde hinlänglich untersucht, dass die smarten Anzugträger einen höheren Testosteronspiegel haben als der männliche Durchschnitt.
Auch die Affären von Politikern wie Silvio Berlusconi und Dominique Strauss-Kahn sind nicht Gegenstand von Kneissls Überlegungen, wenn sie Politik mit Testosteron in Verbindung bringt. Die Juristin und Nahost-Expertin beobachtet vielmehr die arabischen Revolutionen und dokumentiert die Problematik des steigenden Männerüberschusses in China und Indien. In ihrem Buch „Testosteron macht Politik“ (Braumüller Verlag) stellt sie auch in Hinblick auf die Geschichte die These auf, dass das männliche Hormon eine nicht zu unterschätzende Antriebsfeder in Zeiten von Umwälzungen sei. Sprich, sexuell frustrierte Männer zetteln eine Revolte leichter an. Biochemische Abläufe bringen den freien Willen also immer wieder in Bedrängnis. Und auch der kleine Unterschied zwischen Mann und Frau ist für Kneissl mehr als ein Klischee.
Wie Kneissl im Gespräch mit der TT sagt, hat sie seit Beginn der arabischen Revolutionen Frauen und Männer interviewt, darunter auch einige, die im Jänner 2011 am Tahrir-Platz in Kairo demonstrierten. „Als die Panzer kamen, sind die Frauen zurückgewichen. Die Männer sind geblieben. Die höhere Risikobereitschaft der jungen Männer hat mit dem Testosteron zu tun.“ Damit wirft Kneissl die Frage auf, ob Männer nicht die besseren Revolutionäre sind als Frauen. Nach 18 Tagen trat Langzeitpräsident Hosni Mubarak zurück. Die Losung am Tahrir-Platz lautete: „Wir haben unsere Freiheit wieder, wir können jetzt heiraten.“ Viele junge Männer im Mubarak-Regime konnten sich nämlich das Heiraten nicht mehr leisten. Hohe Lebensmittelpreise, die niedrigen Löhne, die steigende Arbeitslosigkeit, die Korruption in Politik und Wirtschaft machten es immer schwieriger, eine Familie zu ernähren. Heirat als Revolutionsziel? „Wenn der Sexualtrieb nicht ausgelebt werden kann, weil die Familiengründung aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich ist, dann kann so manches kippen“, meint dazu Kneissl. Die jungen Männer am Tahrir-Platz konnten plötzlich aus ihrer Bedeutungslosigkeit heraustreten. Sie hatten ihre Würde wiedererlangt und ersehnten die Aufgabe, Frauen und Nation zu schützen.
Testosteron scheint ein Tausendsassa zu sein. Das wichtigste männliche Hormon lässt die Risikobereitschaft steigen. Für Dominanz und Lebenskraft steht es, aber auch für Verantwortung und Fürsorge. Wie Studien zeigten, senkt Vaterschaft den Testosteronspiegel, während Erfolg ihn steigen lässt. Die demografische Entwicklung in den arabischen Ländern wies schon in den Nullerjahren auf Umwälzungen hin. UN-Zahlen sprachen davon, dass fast 60 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind. Hoffnungslose junge Männer sind ein explosives Potenzial. Das haben mittlerweile auch Indien und China erkannt. Die beiden Milliardenstaaten erzeugen künstlich einen Bubenüberschuss. Infolgedessen hat sich auch das globale Geschlechterverhältnis verschoben. Auf 105 Buben kommen 100 Mädchen. In Europa liegt das Verhältnis 100 zu 98. Forscher haben errechnet, dass 2040 in China auf 130 Buben nur noch 100 Mädchen kommen würden. In Indien wären es 122 Buben auf 100 Mädchen. 20 Prozent der heiratsfähigen Männer blieben also übrig. Im Zuge der Recherchen hat Kneissl viel mit einem jungen indischen Akademiker korrespondiert. Er gestand, trotz Ausbildung keine Frau zu finden. Kneissl verweist auch auf die chinesischen Wanderarbeiter, die das Wirtschaftswunder geschaffen hätten, aber daran nicht teilnehmen könnten. Sie fallen am Heiratsmarkt durch.
In einem Zukunftsroman hat der französisch-libanesische Autor Amin Maalouf den künstlichen Männerüberschuss bereits vor Jahren aufgegriffen. In der Literatur wurde die Notbremse gezogen.