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Für einen guten Start in den Tag

Es sind nur 90 Sekunden, doch sie begleiten 250.000 Regionalradio-Hörer in ganz Österreich in aller Frühe in den neuen Tag: Die Morgengedanken sind für viele Menschen Teil ihres ganz persönlichen Aufstehrituals geworden.

Von Michaela Spirk-Paulmichl

Der Radiowecker schaltet sich kurz nach 5.30 Uhr ein, rechtzeitig bevor gegen 5.40 Uhr die Morgengedanken anmoderiert werden. Monsignore Christian Leibnitz, Propst in der Stadtpfarre Hl. Blut in Graz, spricht an diesem Tag über die „erste Morgenstunde, das Steuerruder des Tages“. „Viele kennen das bestimmt“, meint er. „Hektik in der Früh – Stau im Bad, alles wuselt durcheinander, Socken, Schulhefte und Autoschlüssel werden gesucht und für ein Frühstück reicht die Zeit oft nicht mehr.“ Dabei würden die großen Lehrer der Meditation und des geistlichen Lebens immer wieder auf die erste Morgenstunde hinweisen – den Anfang des Tages, „die Stelle, an der du die Ewigkeit berührst“. Eine ganze Woche lang – von Sonntag bis Samstag – begleitete Leibnitz die Hörer in den Tag. Er widmete sich dem Schulbeginn, dem Sonnenaufgang oder Katastrophenmeldungen aus aller Welt. „Wer nicht weiß, warum er beten soll, der lese die Zeitung“, sagt er. Wenn er lese, dass ein Rentner drei Tage hilflos in seiner Küche lag, dann denke er an die Verlassenen, denen niemand antwortet, wenn sie rufen.

Rund 250.000 Hörer lauschen den Morgengedanken, die am Sonntag immer etwas später – um 6.05 Uhr – auf Sendung gehen, berichtet Alexandra Mantler-Felnhofer, Produzentin der Morgengedanken in den ORF-Regionalradios. „Manche Menschen stehen mit ihnen auf, hören sie an, bevor sie ihre Kinder wecken oder drehen auf dem Weg zur Arbeit das Radio an. Für viele gehören sie einfach zu ihrem morgendlichen Ritual.“ Die Morgengedanken sollen in den Tag begleiten. Sie sind zum kurzen Innehalten und Durchatmen gedacht, bevor die Hörer in ihren Tag starten. „Es liegt offensichtlich eine große Faszination darin, die klugen Gedanken anderer anzuhören“, erklärt sich Mantler-Felnhofer das besondere Interesse. „Da sprechen Menschen sehr persönlich über Dinge, die sie bewegen, oder über ihre Lebenserfahrungen, ohne andere damit zu vereinnahmen.“

Die Themen würden aus dem Weisheitsschatz der christlichen Tradition stammen, die Sprecher müssten aber keine geweihten Priester sein. Manche seien Religionslehrer, Pastoralassistenten oder in der Erwachsenenbildung tätig. Auf ein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen wird besonders Wert gelegt. „Natürlich hat sich über all die Jahre der Stil der Sendungen etwas geändert“, sagt Mantler-Felnhofer. Die Sprecher würden sich bemühen, ein Publikum quer durch verschiedene Lebenshaltungen und -einstellungen anzusprechen und ihre Texte auch dementsprechend zu formulieren. Allerdings glaube sie sehr wohl, dass Menschen auch heute mit Spiritualität etwas anzufangen wüssten. „Viele sehen Institutionen kritisch. Die Fragen nach dem Warum sind aber sehr wohl da. Woher kommen wir, wohin gehen wir, all das beschäftigt uns.“

Für sie ist das Erzählen eine unterschätzte Kunstform. Dass sich die einzelnen Sprecher auf 90 Sekunden beschränken müssten, mache die Sache zwar nicht leicht, aber immer auch spannend. „Man kann selbst in eineinhalb Minuten viel transportieren, allerdings muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren.“

Der Tiroler Caritasdirektor Georg Schärmer erzählte mitten im Sommer eine Weihnachtsgeschichte – als er mit Bischof Manfred Scheuer durch mehrere Sozialeinrichtungen zog und ihnen in der Notschlafstelle für Drogenkranke ein junger Mann seine Lebensgeschichte erzählte. „Bischof Manfred schenkt ihm sein Ohr und – man spürt es – auch sein Herz.“ Der Kommentar des gerührten Mannes: „Mensch, kannst du gut zuhören, Pfarrer!“ – „Zuhören erschließt Menschenherzen und Himmelstüren“, meinte Schärmer an diesem Morgen. Und es müsse nicht erst Weihnachten werden, dies zu erfahren und zu üben.

Die frühere evangelische Superintendentin Luise Müller sprach über das Ende einer durchwachten Nacht: „Sorgen machen schlaflos.“ Und kam zum Schluss: „Alle Sorgen der Nacht sind am Morgen nur noch halb so schlimm. Mit dem Aufgang der Sonne weicht die Ausweglosigkeit der Sorgen Lösungsansätzen und ich bin Gott dankbar, dass er mich nicht alleine gelassen hat.“

Unter religion.orf.at ist eine Vorschau über die Sprecher der kommenden Tage und Wochen zu finden, Vergangenes kann nachgelesen werden. Die nächste Stimme aus Tirol ist vom Sonntag, 30. September, bis Freitag, 6. Oktober, zu hören: Dann wird Seelsorgeamtsleiterin Elisabeth Rathgeb ihre Impulse für den Tag in Worte kleiden.