„Wir können keine glückliche Insel in einem Meer des Elends sein“
Europa muss als reichste Region der Welt globale Verantwortung übernehmen und seine Versprechen einhalten, fordert Andris Piebalgs. Die TT sprach mit dem EU-Entwicklungshilfekommissar in Alpbach.
Wäre ich ein armes Land, was müsste ich tun, um mich für europäische Entwicklungshilfe zu qualifizieren?
Andris Piebalgs: Wir planen unsere Entwicklungshilfe auf der Grundlage von vier Kriterien: Erstens der Index der menschlichen Entwicklung. Zweitens der Index der Verwundbarkeit, weil manche Länder viel anfäller sind für alle Arten von Naturkatastrophen. Drittens Armut – gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, auch wenn man über diesen Maßstab streiten kann. Und viertens die Qualität des Regierens.
Wir glauben, dass wir in der nächsten Haushaltsperiode (2014-2020) in einigen Ländern nicht mehr tätig werden sollten. Das betrifft beispielsweise China, Indien, Brasilien und Indonesien, die so groß sind, dass unsere Entwicklungshilfe keinen Unterschied macht. Wir sollten uns auf Länder konzentrieren, wo wir einen Unterschied machen können.
Der Großteil der europäischen Hilfe ist übrigens bilaterale Hilfe der einzelnen Mitgliedstaaten – derzeit 82 Prozent. Und jedes Land hat seine eigenen Prioritäten – üblicherweise stehen dahinter historische Erfahrungen. 18 Prozent der Hilfe ist gemeinschaftlich und wird von der EU-Kommission verwaltet. Insgesamt arbeiten wir global und decken beinahe alles ab.
Bleiben wir vorerst noch dabei, dass ich ein armes Land bin. Was, wenn ich gerne autoritär regiere? Wieviel Unterdrückung kann ich mir leisten, bevor ich die europäische Entwicklungshilfe verliere?
Piebalgs: Wenn Sie autoritär regieren, erhalten Sie keine direkten Zuschüsse. Wir würden unsere Unterstützung über Nichtregierungsorganisationen oder über die UNO leiten, die direkten Zugang zur Bevölkerung haben. Ein gutes Beispiel dafür ist Burma.
In der Vergangenheit haben wir manchmal vergessen, dass sich die Situation in einem Land verändern kann – und nicht immer zum Besseren. Dann müssen sich auch die Modalitäten unserer Hilfe ändern.
Wir erhalten das Geld, um armen Menschen zu helfen. Wenn wir die Entwicklungshilfe einstellen, erhalten diese keine Unterstützung mehr. Wir müssen also Modelle entwickeln, die auf lange Sicht tauglich sind. Deshalb legen wir im Fall direkter Zahlungen an einen Staatshaushalt großen Wert auf die Einhaltung der Menschenrechte.
Selbst wenn Sie die europäische Hilfe an einer autoritären Regierung vorbeileiten: Kann es passieren, dass Europa indirekt dabei hilft, das Regime zu stabilisieren, weil es dessen negative Folgen ausbalanciert?
Piebalgs: Ich würde dieses Szenario ausschließen. Fangen wir mit einem Negativbeispiel an: Wir stellen für Simbabwe, wo Robert Mugabe nach wie vor an der Macht ist, keine Entwicklungshilfe mehr bereit. Tatsächlich hat er die Stornierung der Hilfe benützt, um zu behaupten: „Es ist nicht meine Politik, die euch schadet, sondern die der EU.“ Das bedeutet, dass es für ein autoritäres Regime manchmal besser ist, keine Hilfe zu erhalten, um die eigene Politik zu rechtfertigen.
Zweitens beobachten wir die Situation in einem Land sehr genau. Wenn es eine Verletzung der Menschenrechte gibt, stoppen wir die direkten Zuschüsse an die Regierung. Ich sage nicht, dass es keine Rückschläge gebe, aber wir arbeiten nie gegen diese Logik.
Manchmal werden wir dafür kritisiert, dass wir bei den ersten Anzeichen nicht sofort reagieren. Aber es ist nicht so leicht, Hilfe zu stoppen. Man braucht eine gute Analyse der Situation und dann einen Dialog mit der betreffenden Regierung.
Ich würde also eine Situation ausschließen, in der unsere Hilfe ein Unterdrückungsregime unterstützt. Zugleich können wir einen Anreiz bieten, einen Dialog über Entwicklungszusammenarbeit zu beginnen.
Hat die arabische Revolution etwas daran verändert, wie Sie Entwicklungshilfe verteilen?
Piebalgs: Es gab auf jeden Fall einen Einfluss. Als Ergebnis sind wir für diese Länder auf zweierlei Weise aktiv geworden: Erstens durch Unterstützung für Demokratie und Menschenrechte. Wir sollten nicht nur versuchen, die Stabilität zu erhalten. Wir haben sogar eine Stiftung für die Unterstützung der Demokratie gegründet.
Zweitens ermutigen wir diese Länder mit dem Konzept „mehr für mehr“: Je mehr Reformen es gibt, desto mehr Unterstützung gibt es – und umgekehrt. In unserer Nachbarschaft geht unser Engagement dabei tiefer als als in irgendeinem anderen Land, mit dem ich arbeite. Den ersten Anzeichen zufolge handelt es sich um den richtigen Zugang. Unser Konzept funktioniert in Tunesien und in Marokko.
Es ist auch wichtig, zwei technische Fragen anzusprechen: die Geschwindigkeit, mit der wir helfen, und die Sichtbarkeit unserer Hilfe. In vielen Fällen haben wir Programme, die für die Bevölkerung wenig sichtbar sind und vielleicht wenig transparent für das Parlament. Ich glaube, dass unsere gesamten Zuschüsse an die Regierungen in den Budgets der Länder aufscheinen sollten. Das bedeutet auch eine Verpflichtung für uns: Wenn unsere Partner ihre Auflagen erfüllen, sollten wir die Hilfe zum zugesagten Termin liefern und nicht von bürokratischen Verzögerungen sprechen. Wir sollten die Glaubwürdigkeit unserer Modelle verbessern.
Wenn die europäische Hilfe an bestimmte Standards gebunden ist, ist sie dann ein Machtinstrument ?
Piebalgs: Ich würde den Begriff nicht verwenden, auch wenn ich weiß, dass das in den Mitgliedstaaten unterschiedlich gesehen wird. Ich würde Ländern nicht sagen, dass wir ihnen Geld geben, wenn sie sich gut benehmen. Am Ende führt das zu Feindseligkeit – Erpressung ist niemals ein gutes Instrument. Es ist besser, nicht zu helfen, als mit der Hilfe ein Spiel zu spielen.
Nach meiner Erfahrung sind die meisten Länder begierig, weiterhin EU-Hilfe zu erhalten, in welcher Form auch immer. Sogar Andry Rajoelina in Madagaskar (der sich selbst zum Chef der Übergangsregierung ausgerufen hat, Anm.) hat gebeten: „Ich verstehe die politischen Schwierigkeiten, aber bitte unterstützt die Menschen im meinem Land!“ Letztlich arbeiten wir nicht mit den Regierungen. Wie benützen die Regierungen manchmal als Mittler für den Transfer unserer Unterstützung für die Menschen. Und wenn wir der Regierung nicht trauen, sollten wir nicht die Menschen bestrafen.
China bietet ebenfalls Hilfe in Afrika an, knüpft diese aber nicht an bestimmte Standards. Hat das Auswirkungen auf die europäische Hilfe?
Piebalgs: Es stimmt, dass die chinesische Politik anders ist, aber der Umfang unserer Hilfe ist auf jeden Fall größer. Die Chinesen helfen auf zweierlei Weise. Die eine ist, dass Regierungen zu den Chinesen kommen und um eine Infrastruktur bitten, etwa einen neuen Präsidentenpalast, den wir nie bauen würden. Der Präsident braucht einen Palast, da stimme ich zu, aber es ist nicht die Art von Entwicklung, für die der europäische Steuerzahler aufkommen sollte. Der andere Teil sind Investitionen in Bezug auf Mineralien und Bergbau. Wir haben nichts dagegen, rufen aber nach mehr Transparenz.
Wir arbeiten in der EU jetzt mit neuen Direktiven für Transparenz und unterweisen auch unsere Industrien darin. Die Transparenz in allem, was man in einem Land tut, ist entscheidend für die Wohlfahrt in diesem Land und im Interesse der Bürger des betreffenden Landes. Und ich hoffe, dass China, Indien, Brasilien und andere relativ große Länder sich dem anschließen. Wenn wir nicht offenlegen, was wir tun, kann unsere Unterstützung kontraproduktiv werden. Ich will aber nicht polarisieren im Sinn von gute europäische Hilfe und schlechte chinesische Hilfe.
Wir sind ehrlich darin, auch politische Fragen anzusprechen sowie Fragen in Bezug auf unsere Unterstützung, und viele Länder begrüßen das. Beispielsweise habe ich in der AKP-Gruppe (afrikanische, karibische und pazifische Staaten) gesagt: „Wir haben eine begrenzte Menge Geld und möchten nur die ärmsten Staaten unterstützen.“ Trotzdem waren auch die reicheren Länder willens, sich weiterhin mit uns einzulassen.
Wie entwickelt sich der Umfang der Entwicklungshilfe der Europäischen Union?
Piebalgs: Wir haben in unserem Budgetentwurf für die nächste Periode eine Erhöhung von etwa zehn Prozent vorgesehen, und ich hoffe, dass wir bis Ende dieses Jahres wissen, wieviel wir auf EU-Ebene für Entwicklungshilfe ausgeben.
Ich sage immer: Wir müssen glaubwürdig sein. Es ist weniger wichtig, ob wir Hilfe bilateral oder über die EU verteilen. Wichtiger ist, dass unsere Ausgaben für Hilfe 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Zugleich gibt es einen Mehrwert, wenn wir Hilfe über die EU bereitstellen, weil es sich wirklich um europäische Hilfe handelt, es dafür ein schlüssiges Konzept gibt und die mehrjährige Planung zu besserer Vorhersagbarbarkeit führt. Man kann die Ergebnisse leicht messen, und wir können besser auf globale Krisen reagieren.
Kann und soll Europa globale Krisen in Angriff nehmen?
Piebalgs: Wir sind bei weitem der reichste Teil der Welt. Es hilft nicht, wenn man versucht, sich vor den globalen Problemen abzuschirmen. Das ist, wie wenn man sagt: „Es gibt Einbrüche in meinem Dorf, aber in meinem Haus ist nichts passiert. Ich bin also sicher.“ Und dann kommt eines Tages ein Einbrecher zu meinem Haus, und ich beschwere mich, dass niemand etwas unternommen hat. Ich glaube also, dass es die Verantwortung der EU ist, globale Führung zu zeigen im Kampf gegen Armut und Klimawandel und für Nachhaltigkeit. Wenn wir nur untätig herumsitzen, werden diese Probleme früher oder später auch unsere Bürger betreffen. Wir können keine glückliche Insel in einem Meer des Elends sein. Und deswegen brauchen wir Geld.
Das ist auch wichtig, um unsere Bürger zu ermutigen. Nachrichten konzentrieren sich üblicherweise auf negative Ereignisse. Wenn man aber sieht, dass es weltweit weniger Konflikte gibt und mehr Wachstum, dass sich die Dinge also in die richtige Richtung bewegen und dass wir das beschleunigen können, dann ermutigt das.
Derzeit steht Europa aber vor eigenen Problemen. Befürchten Sie, dass die Krise zuhause Länder veranlassen kann, ihren Einsatz im Ausland zurückzuschrauben?
Piebalgs: Ja, das befürchte ich. Bisher hat es die Gesamtsituation gelindert, dass einige EU-Länder ihre Hilfe erhöht haben – etwa Schweden, Dänemark, Luxemburg und Großbritannien. Aber die Lage ist fragil, und es ist wichtig, dass die Länder Druck aufeinander ausüben, ihre Zusagen einzuhalten. Am besten wäre es, Hilfe für den EU bereitzustellen, das wäre weniger kontroversiell in den Mitgliedstaaten. Aber darüber müssen die Mitglieder selbst entscheiden.
Dann müssen Sie auch Druck auf die österreichische Regierung ausüben. Österreich ist eines der reichsten Länder selbst innerhalb der EU, aber weit entfernt davon, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben...
Piebalgs: Genau. Die Dynamik stimmt nicht. Die österreichische Regierung hat auf den EU-Gipfeln das 0,7-Prozent-Ziel sehr stark unterstützt. Österreich unterstützt auch die „Agenda for Change“ und nachhaltige Entwicklung. Aber es braucht sicherlich nationale Investitionen. Das brächte auch mehr Sichtbarkeit für Österreich, weil ja nicht EU-Gelder fehlen, sondern nationale Programme. Österreich könnte sehr wertvolle Beiträge leisten – beispielsweise für nachhaltige Energie in Afrika. Das würde einen großen Unterschied für viele arme Menschen machen. Wir üben also Druck von Seiten der Kommission aus, aber am wichtigsten ist es, dass die Menschen im Land ebenfalls Druck ausüben, wenn es zu Budgetdebatten kommt, um sicherzustellen, dass Entwicklungsfragen nicht zurückgestellt werden.
Aber es geht nicht allein um Österreich, sondern beispielsweise auch um mein Land. Während der Krise hat Lettland seine Entwicklungshilfe beinahe auf Null zurückgefahren. Jetzt steigt sie wieder, aber nicht wesentlich genug, um das Versprechen einzuhalten. Es ist nicht genug zu sagen, dass wir ein armes Land sind. Verglichen mit Mali, Niger oder Somalia ist Lettland sehr reich.
Wir sollten den relativen Wohlstand sehen, und die EU-Länder – zumindest die ärmeren – erhalten auch viel Solidarität durch die EU-Regionalförderung. Wenn man die Regionalförderung für mein Land anschaut, dann ist das, was Lettland für die Welt tut, im Vergleich ein kleiner Teil.
Insgesamt gibt es bei der EU-Entwicklungshilfe nach wie vor eine tiefe Kluft zwischen der Rhetorik und den Ressourcen, die tatsächlich eingesetzt werden...
Piebalgs: Das ist unterschiedlich von Land zu Land. Aber wenn wir uns in einer Sache einige sind, dann sollten wir handeln. Das 0,7-Prozent-Ziel wurde von allen EU-Staaten vereinbart. Und es ist unfair, dass einige das Versprechen einhalten und andere darauf vergessen. Wir haben eine Erwartung geschaffen – gegenüber unseren Partnern und unseren Bürgern. Wir sollten realistisch sein, was wir versprechen können, aber wenn wir etwas versprochen haben, dann sollten wir glaubwürdig sein. Wir zahlen gerade Lehrgeld angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise. Aber ich glaube, dass wir stärker und realistischer aus dieser Krise herausgehen.
Das Gespräch führte Floo Weißmann