Bob Dylans „Tempest“: Losgelöst von der Gegenwart aber aktuell
Am Freitag erscheint das neue Album des 71-Jährigen. In zehn Liedern erzählt Dylan große, dramatische Geschichten.
Wien – Es ist ein besonderes Erlebnis mit Bob Dylan durch leere Straßen zu wandeln, auf der Suche nach Wärme und Liebe, gezeichnet von einem ereignisreichen Leben voller Erfüllung, aber auch Enttäuschungen, eingebettet in Melodien aus anderen Epochen, losgelöst von der Gegenwart und doch aktuell: „Tempest“, das 35. Studioalbum des Sängers, Musikers und Songschreibers bietet viele magische Momente, zehn Lieder, die wie Filme oder dicke Romane funktionieren, den Zuhörer mitnehmen und nicht mehr loslassen, düstere Stimmungen, die wie schwere akustische Gewitterwolken durch den Raum schweben, aber auch entspannte Melodien. „Tempest“ ist eine wirklich große Platte und steht ab Freitag (7.9.) in den Geschäften.
Eine Stimme wie ein Leben
Dylan (71) hat unter dem Pseudonym Jack Frost wieder selbst produziert. „Dunkel und geisterhaft“ sei die Arbeit ausgefallen, wusste der „Rolling Stone“ in seiner Voraus-Rezension zu berichten. Dem ist nicht zu widersprechen. Dylan erzählt große, dramatische Geschichten. Dylan krächzt und ächzt, legt dabei viel Emotion und Charisma in seine Stimme. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Gefühl - eine Stimme wie ein Leben.
Beschwingt startet „Tempest“: „Duquesne Whistle“ ist ein jazzig-angehauchter Ragtime-Klassiker, will man fast meinen, weil das Stück nach dem dreimaligen Durchlauf so vertraut und ohnehin wie 50 Jahre alt klingt. Mit „Soon After Midnight“ folgt ein zarter, leiser Blues, Dylan croont in absoluter Topform. „Narrow Way“ rockt 7,5 Minuten lang, angetrieben von Gitarrenriffs in der Endlosschleife, einem Country-Rhythmus und Dylans rauen Vocals. Alle Texte sind bildreich, prall gefüllt mit Doppeldeutigkeiten und Metaphern, tiefgründig, melancholisch, traurig, heiter, aus Fragmenten zusammengesetzt wie die Lieder selbst.
„Tempest“: Der Untergang der Titanic in 14 Minuten
„Long And Wasted Years“ ist eine bittersüße Ballade mit perfekten, im Internet bereits viel zitierten Textzeilen wie „It‘s been such a long time since we loved each other and our hearts were true - one time, for one brief day, I was the man for you“. Im Gospel ähnlichen „Pay In Blood“ wird Dylan böse und bissig, im fantastischem „Scarlet Town“ erklingen Banjo und Geigen, der Stil dreht sich in Richtung britischem Folk. Gekonnt wandelt Dylan wie ein nicht zu fassender Geist zwischen den Genres. Dem mit Akkordeon von David Hildalgo verfeinerten Blues „Early Romans King“ folgt die neunminütige ergreifende Ballade „Tin Angel“ über Verrat und Rache. Und dann ist da noch „Roll On John“, die würdige Verneigung vor John Lennon mit Beatles-Zitat.
Aber das gewaltigste Stück, das zentrale Ereignis heißt „Tempest“. Der 14 Minuten lange Titelsong ist eine lyrische Tour de Force, bestehend auf 45 Versen, die vom Untergang der „Titanic“ erzählt, basierend auf einer irischen Folk-Melodie und einem Country-Walzer, episch und atemberaubend, dylanesque. Es wird viel geschrieben, gerätselt und analysiert werden. Aber das Album funktioniert auch ohne Musikwissenschaft: „Tempest“ ist fantastisch, ein Universum für sich, große Kunst und ebenso große Unterhaltung. (APA)