Frankreich

Mehrfachmord in den Alpen: Vierjährige überlebt unter Leiche

Acht Stunden versteckte sich das Mädchen aus Angst unter den Beinen seiner toten Mutter. Schwer verletzt überlebte auch ihre drei Jahre ältere Schwester. Die grausame Bluttat ist für die Ermittler rätselhaft.

Annecy – Starr vor Angst liegt das kleine Mädchen unter den Beinen der ermordeten Frau. Zusammengekauert. Acht Stunden lang. In einem Auto, das von Kugeln durchsiebt ist. Erst um Mitternacht findet die Polizei das unverletzte Kind - lange nach dem Fund eines weiteren, schwer verletzten Mädchens und vier Leichen: „Niemand hat sie gesehen, weil sie sich seit 16.00 Uhr nicht bewegt hat, zweifelsohne verängstigt, völlig versteckt, völlig reglos zwischen den Toten“, berichtet Staatsanwalt Eric Maillaud am Donnerstag. Die beiden Mädchen sind die einzigen Überlebenden des Blutbades bei Annecy, das selbst die Ermittler in Frankreich schockiert.

Auf einem Waldparkplatz in dem ostfranzösischen Urlaubsgebiet hatte ein Radfahrer am Mittwoch kurz vor 16.00 Uhr drei Tote in einem Auto entdeckt. Der Motor des BMW Break lief noch, der erschossene Fahrer am Steuer, zwei tote Frauen auf der Rückbank. Neben dem Auto lagen zudem das schwer verletzte Mädchen und ein ermordeter Radfahrer, der vermutlich rein zufällig vorbeigekommen und vom Täter ebenfalls mit Schüssen niedergestreckt worden war. Erste Ermittlungen ergeben: Die Toten in dem in Großbritannien zugelassenen BMW sind vermutlich Vater, Mutter und Großmutter der Mädchen.

Überleben der Kinder grenzt an ein Wunder

Die Opfer hatten sich die Gegend um den idyllischen See der Alpenstadt Annecy, eines der wichtigsten Touristenziele in Frankreich, als Urlaubsort gewählt. Auf einem Drei-Sterne-Campingplatz in Saint-Jorioz am See übernachteten sie laut Zeugen in einem weißen Wohnwagen. „Wir haben die Mädchen mit ihren Fahrrädern spielen sehen“, berichtet die niederländische Touristin Petra Kroon. „Alle hier sind schockiert, Franzosen, Briten, Deutsche.“

Dass die beiden Mädchen überlebten, grenzt angesichts der Brutalität des oder der Täter an ein Wunder. Denn als die Ermittler am Mittwoch an den Tatort kamen, bot sich ihnen ein grauenhaftes Bild. Die Polizisten konnten die Türen des Autos erst einmal gar nicht öffnen, weil das Auto so von Kugeln durchsiebt war, dass bei der geringsten Bewegung die Fensterscheiben hätten zerspringen können. Die Spuren am Tatort sollten aber kriminaltechnische Experten aus Paris sichern, die erst Stunden später eintrafen.

Motiv liegt völlig im Dunkeln

Auf die Experten wartend „haben Feuerwehrleute, Techniker und Ärzte durch die Einschusslöcher in den Fenstern ins Wageninnere geschaut“, erzählt der Leiter der Ermittlungen, Benoit Vinnemann. „Sie haben die Kleine nicht gesehen“, versichert er mit Blick auf die Vierjährige, die sich „unter den Beinen ihrer Mutter“ versteckt habe. Sogar mit einem Hubschrauber mit Wärmebild-Kamera, der weitere Personen aufspüren sollte, überflog die Polizei den Tatort. Doch das kleine Mädchen in dem Auto blieb bis Mitternacht unentdeckt.

„Die Kleine sprach Englisch. Sie hat Lärm gehört, Schreie, aber mehr konnte sie nicht sagen“, sagt Staatsanwalt Maillaud. Nun hoffen die Ermittler, dass das ältere Mädchen genauere Angaben machen kann, das von einem brutalen Schlag am Kopf getroffen wurde und am Donnerstag im Krankenhaus von Grenoble noch einmal operiert werden musste.

Das kaltblütige Vorgehen des oder der Täter gibt den Ermittlern Rätsel auf. „Wir wissen überhaupt nichts über das mögliche Motiv“, räumt der Staatsanwalt am Donnerstagnachmittag ein. Die Aufmerksamkeit der Ermittler richtet sich vorerst unter anderem auf die Identität der Familie. Der Halter des Autos, der 50-jährige Saad al-Hilli, stammte aus Bagdad. Er wohnte mit seiner Familie in einem großzügigen Haus am Stadtrand von London. Die Ermittler blieben am Donnerstag aber extrem vorsichtig und wollten nicht bestätigen, dass der Fahrer auch der Fahrzeughalter und Vater der Mädchen war. Die ältere Frau hatte einen schwedischen Pass, auch ein irakischer Pass wurde gefunden. (APA/AFP)